24. Mai 2019.
BILD: Herr Ministerpräsident, ganz Europa schaut fassungslos auf das Polit-Beben in Österreich. Sie auch?
In die österreichische Innenpolitik möchten wir in keiner Weise reinreden, das müssen die österreichischen Wähler entscheiden.
Herr Strache hatte Sie erst vor zwei Wochen besucht. Enttäuscht, dass nun ein Vertrauter von Ihnen ausfällt? Sie waren ja auch sein Vorbild.
Das Wichtigste für einen Politiker das Vertrauen der Menschen. Strache war ein Kämpfer in eigener Sache, aber er hat das Vertrauen der Menschen verloren. Das, was Strache gesagt hat, ist inakzeptabel.
Die Mitgliedschaft Ihrer Partei in der EVP-Fraktion ist ausgesetzt, und Sie wollen den Spitzenkandidaten Manfred Weber nicht mehr unterstützen. Wer trägt Schuld an dieser Eskalation?
Die Skandinavier und die Benelux-Länder. Sie wollten in Wahrheit unsere Aussperrung aus der EVP. 13 Parteien initiierten so etwas drei Monate vor einer wichtigen Wahl - einen größeren politischen Blödsinn habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Und die Spitzen der EVP waren zu schwach, um das zurückzuweisen. Stattdessen erklärte Herr Weber, er wolle nicht mit den Stimmen der Ungarn EU-Kommissionspräsident werden. Das ist eine solche Beleidigung des ungarischen Volkes, der ungarischen Wähler, dass er als Kandidat unhaltbar geworden ist. Von dort an kann er nicht unterstützt werden. Er hat sich das selbst zuzuschreiben.
Wie erklären Sie sich seine Aussage?
Damit, dass er eine schwache Führungspersönlichkeit ist. Wenn man eine Führungspersönlichkeit sein will, dann muss man um die eigenen Überzeugungen kämpfen. Soweit ich sehe, ist Manfred Weber ein anständiger Mann, aber er ist nicht bereit, für die eigenen Werte zu kämpfen. Er passt sich an. Ich kann zwischen ihm und dem sozialdemokratischen Kandidaten Timmermans nur noch äußerliche Unterschiede ausmachen. Er ist kein konservativer Politiker mehr.
Manfred Weber hatte Sie ja hier in Budapest auch besucht. Sind Sie menschlich enttäuscht?
Überrascht war ich. Enttäuschung trifft es nicht, es ist eher ein schmerzhaftes Gefühl. Treue halte ich auch in der Politik für wichtig und ich habe Herrn Weber selbst zulasten eines Teils meines eigenen politischen Kapitals unterstützt.
Die EVP ist noch Ihre politische Heimat?
Ja.
Wollen Sie in der EVP-Familie bleiben? Oder streben Sie ein neues Bündnis an mit Rechtsnationalen wie Italiens Innenminister Salvini?
Das hängt von der EVP ab. Ich tue alles für den Erfolg der Volkspartei. Ich will, dass die EVP die Europawahl gewinnt. Aber danach steht uns eine schmerzhafte Richtungsdebatte bevor: Ich will nicht, dass die EVP ihr Schicksal mit der politischen Linken verbindet. Die politische Linke in Europa vertritt heute Dinge, die Europa zugrunde richten, auch Deutschland. Sie wollen Migration nicht aufhalten, sondern fördern. Und sie legen Vorschläge für einen europäischen Sozialismus vor, für den die Deutschen den Preis zahlen werden. In geringerem Maße natürlich auch wir in Mitteleuropa. Salvini macht in Italien zum Beispiel einen guten Job, deshalb sollte man kein Bündnis für die Zeit nach der Wahl ausschließen.
Ist Ihre Abkehr von Herrn Weber auch eine Abkehr von Deutschland?
Nein, Europa ging es immer gut, wenn Deutschland und Ungarn eng zusammengearbeitet haben. Wir suchen also die Zusammenarbeit mit den Deutschen. Aber es gilt auch das ungarische Sprichtwort: Wir springen nicht hinterher in den Brunnen. Wo etwas schiefläuft, machen wir nicht mit.
Wo konkret?
Dem deutschen Vorschlag, außenpolitische Entscheidungen in der EU nicht mehr einstimmig, sondern mit Mehrheitsbeschluss zu treffen, werden wir zum Beispiel nicht folgen. Das ist das Ende selbständiger Außenpolitik für Länder von der Größe Ungarns. Dies ist ein stolzes Land. Ungarn kann man überzeugen, aber nicht mit Gewalt zurechtbiegen. Wer das bislang versucht hat, hat sich die Zähne ausgebissen. Wir sind Anhänger des Europas von Helmut Kohl, wer immer auch auf die Interessen der kleineren Länder geachtet hat.
Wenn Sie Weber nicht unterstützen wollen, wer ist dann Ihr Favorit für die Europawahl?
Das werden wir im richtigen Moment nach der Wahl sagen, aber wir werden mit Sicherheit nicht als erstes unsere Karten auf den Tisch legen.
Sie wurden auch von CSU-Chef Söder und CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer kritisiert, die bislang immer zu Ihnen standen. Könnte es nicht sein, dass auch Sie selbst Fehler gemacht haben?
Wer arbeitet macht auch Fehler. Aber hier geht es um Überzeugungen und nationale Interessen. Wer Recht hat, wird die Geschichte zeigen. Es gibt einen Spruch: Ungarn haben nicht Recht, Ungarn werden Recht haben. (lacht)
Manfred Weber wirbt auf Plakaten mit sicheren Außengrenzen. Das müsste Ihnen doch eigentlich gefallen?
Das tut es auch. Es wäre gut, wenn Europa den ungarischen Grenzschutz unterstützen würde. Für den Zaunbau gab es jedoch keinen Cent. Widersprüchlichkeit ist ein Merkmal europäischer Politik.
Würden Sie Frontex-Einheiten an der ungarischen Grenze akzeptieren?
Nein. Frontex gehört dorthin, wo man die Grenzen nicht schützen kann. Wir haben bewiesen, dass wir es können.
Die EU will Stärke zeigen gegenüber Russland und China, geschlossen auftreten. Sie hingegen kochen immer wieder Ihr eigenes Süppchen.
Schauen wir auf die Tatsachen, die Sanktionen gegen Russland haben zu einem wachsenden Handel Deutschlands mit Russland geführt, es wurde sogar eine russische Gasleitung nach Deutschland gebaut, während der Export von Ungarn nach Russland um 8 Mrd. Euro abstürzte. Von meinem Stuhl aus sieht es so aus, als hätten die großen europäischen Länder uns Mitteleuropäer aus dem Handel rausgedrängt und selbst die Plätze eingenommen. Und all das nannte man dann Sanktionen. Ähnliches trifft auf China zu.
Oder liegt es daran, dass Sie sich in Wahrheit Russland näher fühlen als der EU?
Russland ist eine andere Welt. Unsere Welt ist Europa, der Westen. Ich versuche allerdings den Russen nicht zu sagen, wie sie leben sollten. Ich habe es auch nicht gemocht, als sie uns reinredeten. Unsere Erfahrung ist: Wenn es zwischen Russland und dem Westen einen Konflikt gibt, ist das immer schlecht für Ungarn. Deshalb suchen wir den Ausgleich. In der Sicherheit, im Bereich der militärischen Verteidigung müssen wir Stärke zeigen, in der Wirtschaftskooperation müssen wir verhandeln.
Mit der Wirtschaft Ungarns sieht es ganz gut aus, trotzdem gingen Tausende wegen Ihres neuen Arbeitszeitgesetzes auf die Straße. Kommt der Aufschwung nicht genug bei den Menschen an?
Wir haben mehr als 5% Wirtschaftswachstum, ein konkurrenzfähiges Steuersystem und nähern uns der Vollbeschäftigung. Aber wir brauchen weitere Investitionen, sehr gern auch aus Deutschland. Bei den Demonstrationen habe ich den Menschen versprochen, dass wir das Gesetz korrigieren, wenn es nicht funktioniert. Aber es funktioniert. Es kommt eben auch vor, dass eine Regierung mal recht hat. Es gab deswegen jedenfalls seit Monaten keine einzige Demonstration.
Sie haben in der vergangenen Woche US-Präsident Trump besucht, einen Politiker, der wie Sie in Europa teils heftig kritisiert wird. Haben Sie sich deshalb so gut verstanden?
Auch. (Lacht) Wir sind Verwandte in der Ungerechtigkeit: Seine Erfolge werden nicht anerkannt und meine auch nicht. Noch ein Unterschied zu Brüssel und Europa: Donald Trump spricht eine einfache und verständliche Sprache und nicht dieses Euro-Kauderwelsch. Amerika und Ungarn sind natürlich andere Gewichtsklassen, aber wir sind beide erfolgreich in der eigenen Liga. Die US-Wirtschaft entwickelt sich besser als vorher, beim Thema Einwanderung gibt es ebenfalls tiefe Übereinstimmung und wir setzen uns beide dafür ein, dass Israel fair behandelt wird.
Stichwort Israel: Sie sind für Ihre Kampagne gegen den US-Investor ungarisch-jüdischer Abstammung George Soros heftig kritisiert worden. Es gab auch aus Israel Antisemitismus-Vorwürfe...
Man darf nicht zulassen, dass sich jemand in einer politischen Diskussion hinter seiner Abstammung versteckt. Das ist nicht korrekt. Unser Streit mit Soros hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Wir haben ein Problem mit dem Kasinokapitalismus, mit unüberschaubar finanzierten und politischen Interessen dienenden NGOs, und mit Spekulanten. Ja, es gab Vorwürfe in den israelischen Medien. Aber in Ungarn gilt gegenüber Antisemitismus Null-Toleranz. Das wird auch von Ministerpräsident Netanjahu anerkannt. Die jüdische Gemeinschaft lebt hier vielleicht am sichersten in ganz Europa. Das hängt auch damit zusammen, dass es hier keine großen muslimischen Gemeinschaften gibt und damit, dass die Regierung die jüdische Gemeinschaft entschlossen schützt. Importierter Antisemitismus aus der muslimischen Welt ist in Westeuropa jedoch ein immer größer werdendes Problem.
Sie wollen damit jetzt aber nicht sagen, dass alle Muslime Antisemiten sind?
Das wäre eine große Beleidigung. Ich fälle keine Urteile über Gruppen von Menschen. Jeder Mensch muss nach seinen Taten beurteilt werden. Aber das Problem besteht.
Um die Wirtschaft steht es gut, um die Pressefreiheit Ungarns zunehmend schlechter.
Über diesen Vorwurf wird in Ungarn immer herzlich gelacht. Ich werde in allen Medienbereichen scharf kritisiert. Es wäre gut, wenn ich in der ungarischen Presse einmal Rückenwind hätte, denn jetzt habe ich ständig Gegenwind. Die Opposition wird unterstüzt vom größten kommerziellen TV-Sender RTL, dem größten Nachrichtensender ATV, der größten Tageszeitung Népszava, dem größten Online-Portal Index, der größten Wochenzeitung HVG und der größten Boulevard-Zeitung Blikk.
Wenn aber angesehene Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“ heute kritisieren, dass die Pressefreiheit in Ungarn eingeschränkt ist und Medien gleichgeschaltet werden - was sagen Sie dann?
Das ist lächerlich. Wenn Sie heute in die Zeitungen schauen, dann werde ich von allen Seiten kritisiert. Gestern kamen die fünf großen Wochenzeitungen heraus, drei von ihnen ziehen auch in dieser Woche über mich her.
Sie wollen sagen, wenn Sie heute ein Journalist in Ungarn kritisiert, hat er morgen noch seinen Job?
Das sind alles Presseorgane in privater Hand, auf die wir weder Einfluss nehmen können noch wollen. Der größte Fernsehsender ist sogar in deutscher Hand. Glauben Sie wirklich, da würden Journalisten gefeuert, wenn sie mich kritisieren?
Spätestens 2021 wird Angela Merkel aus der Politik ausscheiden. Was glauben Sie: Wie wird diese EU in der Zeit nach Merkel aussehen?
Dass Frau Merkel geht, glaube ich erst, wenn ich es sehe. Wir reden hier schließlich über die größte Kämpferin Europas, die in den vergangenen Jahren so manchen Mann in den Schatten gestellt hat. Wer sie unterschätzt, der irrt sich. Und es gibt noch ein Problem: Sie hinterlässt ein großes Vakuum in Europa. Seit sie sich zum Teilrückzug entschlossen hat, wird Europa überhaupt nicht mehr geführt. Europa braucht einen starken deutschen Kanzler mit klaren, festen Vorstellungen. Das ist die Wahrheit, ob es uns gefällt oder nicht. Angela Merkel ist noch nicht gegangen, aber sie fehlt jetzt schon.
Können Sie den Namen Annegret Kramp-Karrenbauer aussprechen?
Nein. Das ist selbst für einen Ungarn eine schwere Probe!
Könnte sie das Vakuum füllen?
Politik ist eine wundersame Welt. Da gibt es immer wieder Wunder. Vermeintliche Helden sind gestürzt, andere haben sich jahrelang gehalten, auf die niemand einen Pfifferling gesetzt hätte. Der Marschallstab steckt auch in der Tasche der deutschen CDU-Chefin.
Kennen Sie den Werbespot für Opel, in dem die Straßen von Budapest als so schlecht dargestellt werden, dass sie ein Härtebeweis für die Autos von Opel sind?
Nein, den kenne ich nicht. Aber ich werde drüber nachdenken, ob da etwas Wahres dran sein könnte. Andererseits: Was für einen Deutschen bereits holprig ist, das ist für einen Ungarn noch spiegelglatt.
Sie haben immer wieder dafür geworben, die mitteleuropäischen Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei ernster zu nehmen. Welche Rolle sehen Sie für sich persönlich in diesem Bündnis der Visegrad-Staaten?
Das Bündnis wird von Polen angeführt mit seiner starken Wirtschaft und 40 Mio. Einwohnern. Die Epoche eines Europas der deutsch-französischen Achse ist abgelaufen. Frankreich, Deutschland und die Visegrad-Staaten - so sieht die neue Geometrie Europas aus. Politisch, emotional und wirtschaftlich werden die Visegrad-Staaten einen dauerhaften Verbund bilden. Es wird der Moment kommen, in dem Deutschland für sich erkennt, dass es auch zu dieser mitteleuropäischen Gruppe dazugehört. Das wird die europäische Politik ändern.
(miniszterelnok.hu)