Rede Viktor Orbáns vor der Tagesordnung im ungarischen Parlament.
Budapest, 21. September 2015

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Mitabgeordnete!

Ich habe zu Beginn der Herbstsitzungsperiode um das Wort gebeten, um über die Ereignisse des vergangenen Zeitraumes zu berichten. Die Frage der illegalen Einwanderung ist mit einer derartigen Wucht in unser Leben eingedrungen, dass ich jetzt hierüber berichten muss, dem Hohen Haus Bericht erstatten muss. Bevor ich mit meinem Bericht beginne, möchte ich von diesem Ort aus im Namen des ganzen Landes und im Namen eines jeden Ungarn den an unseren Grenzen ihren Dienst versehenden Polizisten und Soldaten unseren Dank aussprechen. Das, was sie geleistet haben, ist diszipliniert, human, entschlossen, das heißt vorbildlich. Wir danken für ihren für die Heimat geleisteten Dienst!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Im Zusammenhang mit der illegalen Einwanderung werde ich darüber sprechen, was nach Ansicht der ungarischen Regierung im Grunde die Natur des Problems ist. Notwendigerweise werde ich auf die Frage eingehen müssen, warum es denn zwischen der Europäischen Union und uns diskutierte Fragen gibt. Ich werde darüber sprechen, was wir bisher im Interesse der Eindämmung der Einwanderung, im Interesse des Schutzes der Grenzen von Ungarn und Europa getan haben, und schließlich muss ich auch darauf eingehen, was noch in den kommenden Monaten auf uns wartet.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Das Problem ist einfach, um das Kind beim Namen zu nennen: massenhafte Völkerwanderung. Die Einwanderer poltern nicht mehr nur gegen die Tür, sie brechen sie auch schon auf. Nicht einige hundert, nicht einige tausend, sondern mehrere hunderttausend, ja sogar in der Größenordnung von Millionen bestürmen die Einwanderer die Grenzen Ungarns und Europas. Es ist nicht abzusehen, wo das Ende ist. Der Nachschub ist reichlich, Millionen bereiten sich auf den Weg vor. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Irak, dies ist ein Land mit einer Bevölkerung von 33 Millionen Menschen, von denen heute 8 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, das heißt 8 Millionen Menschen leben nur und ausschließlich hiervon, laut unseren Voraussagen wird ihre Zahl bis zum Ende des Jahres von 8 auf 10 Millionen steigen, und von diesen 8 Millionen können wir heute schon 4 Millionen als innere Flüchtlinge betrachten. Syrien: vier Jahre Bürgerkrieg, 12 Millionen durch humanitäre Hilfe Unterstützte, 7,6 Millionen innere Flüchtlinge, von denen bereits 4 Millionen gezwungen waren, in die benachbarten Staaten zu gehen, heute leben sie in Gefangenenlagern. Afghanistan: neunhundertfünfzigtausend Flüchtlinge im Iran, 1,5 Millionen Flüchtlinge in Pakistan. In Libyen tobt ein Bürgerkrieg, in Eritrea sind innere Revolten an der Tagesordnung, in Mali haben wir die Situation eines inneren Krieges, in Somalia ist die Lage zur Hälfte wie ein Bürgerkrieg. Wenn wir die Mengen im Subsahara-Raum, die Menschenzahlen und die Kriegslage zusammenfassen, dann können wir sagen, dass im Raum der Subsahara sich die Zahl der inneren Flüchtlinge auf 12,5 Millionen Menschen beläuft. Dies ist der kurze Lagebericht. Die nordafrikanische Schutzlinie ist zusammengebrochen, der „arabische Frühling” hat ein Chaos ergeben, die Institutionen der von uns – das heißt durch den Westen – für die alleinig selig machende Staatsform gehaltenen repräsentativen Demokratie sind dort nicht in der Lage zu funktionieren, wo es keinen Willen hierzu gibt. Hinzu kommt noch, dass darüber hinaus auch noch die Europäische Union schwach ist. Es war bereits zu Beginn des Jahres zu sehen gewesen, dass dies kein gutes Ende haben wird. Wer Augen zum Sehen hatte, der konnte erkennen, dass der Migrationsdruck zunimmt. Immer mehr und mehr Menschen machten sich auf den Weg, die Menschenschlepper haben ihre Routen praktisch mit behördlicher Hilfe ausgebaut, und Europa hat nicht nur die Türen und die Fenster sperrangelweit offen gelassen, sondern den Einwanderern auch noch Einladungen geschickt.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Unserer Ansicht nach ist es die natürlichste Sache der Welt, wenn der Mensch seine Familie verteidigt. Wir tun gerade dies. Ungarn ist seit tausend Jahren ein anerkanntes Mitglied der großen europäischen Familie. Es ist unsere historische und moralische Pflicht, Europa zu schützen, denn dadurch schützen wir uns nämlich auch selbst. Das gleiche gilt auch umgekehrt: wenn wir Ungarns Grenzen verteidigen, dann schützen wir auch Europa.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Auf Grund der Massenmedien und des Internets ist einem jeden offenkundig geworden, dass Europa reich, jedoch schwach ist. Dies ist die gefährlichste Kombination, die man sich vorstellen kann. Aus dem Blickwinkel jener, die unter schwierigen Bedingungen leben, ist es eine vollkommen vernünftige Entscheidung, sich auf den Weg in eine reiche, jedoch schwache Weltregion zu machen, um dort einen Anteil an dem dortigen – in diesem Fall an dem hiesigen – guten Leben zu erhalten. Wir verstehen das. Wir verstehen, dass sehr viele von ihnen aus Ländern herausgerissen werden, die auch gegenüber ihrem eigenen Volk Grausamkeiten verüben, wo die Wirtschaft zusammengebrochen ist, wo die Arbeitslosigkeit in historische Rekordhöhen angestiegen ist. Die Einwanderer selbst sind Opfer falscher politischer Entscheidungen. In Wirklichkeit hat die Welt diesen Menschen den Rücken zugewandt, den Rücken jenen Staaten zugewandt, in denen die Menschenwürde nicht geachtet, ja tagtäglich erniedrigt wird. Das alles verstehen und begreifen wir. Nur ist auch auf Grundlage einfacher mathematischer Berechnungen klar abzusehen: Europa ist nicht in der Lage, jedes Leid der Welt auf sich zu nehmen.

Wir sind nicht in der Lage, alle Wirtschaftsflüchtlinge zu unterstützen. Mit minimalen volkswirtschaftlichen Kenntnissen beziehungsweise auf Grund unserer bisherigen Erfahrungen wissen wir auch, dass wir nicht einem jeden Arbeit geben können. Hinzu kommt noch, dass es nicht einmal sicher ist, ob sie alle arbeiten wollen. Ich würde jedenfalls über die Tatsache nachdenken, dass es Menschen gibt, die mit Österreich nicht zufrieden sind und quasi nach Deutschland hinüber fliehen, und ich würde auch über die Szene nachdenken, dass die Einwanderer in Deutschland demonstrierten, weil sie nach Schweden gehen wollten. All dies wird durch eine Reihe schwerwiegender Gesetzesbrüche erschwert. Die Lage ist die, dass jene Europa, das von seiner halben Milliarde Bürgern tagtäglich den Respekt der Gesetze fordert, nicht in der Lage ist, die hunderttausenden von Flüchtlingen zu einer einfachen Registrierung zu bewegen. Die Brüsseler Politik und die Großmächte haben die Lage nur weiter verschlimmert, als sie nicht in der Lage waren, die Wurzeln des Problems anzupacken, und auch jene Personen als Flüchtlinge ansehen, die in Wirklichkeit illegale Wirtschaftseinwanderer sind. So sind wir soweit gekommen, dass unsere Grenzen in Gefahr geraten sind, unsere sich auf den Respekt der Gesetze gründende Lebensweise in Gefahr ist, Ungarn und auch ganz Europa in Gefahr ist. Was jetzt geschieht, das ist ein Überrennen, wir werden in Wirklichkeit überrannt. Und es ist eben heute schon eine tagtägliche europäische Erfahrung, dass wer überrannt wird, der auch nicht andere aufnehmen kann.

Hohes Haus! Meine Damen und Herren!

Warum stehen wir in einer Diskussion mit Europa? Sie können es selbst sehen: Wir müssen einen Kampf an zwei Fronten führen. Wir müssen die Grenzen Ungarns und Europas verteidigen, zugleich müssen wir auch mit der kurzsichtigen europäischen Politik ringen, die sich gegen den Willen der europäischen Menschen gewandt hat. Ich habe den Eindruck, als ob viele nicht bereit wären, die Gefahr in ihrer Gänze zu sehen. Erstens identifizieren sie die massenhafte Völkerwanderung nicht als Gefahr, nicht als Problem, sondern als eine Möglichkeit, über die man sich freuen muss. Die europäische Linke können wir noch verstehen; für sie ist dies tatsächlich eine Gelegenheit, mit der massenhaften Einwanderung die nationalstaatlichen Rahmen aufzulockern, und so ihr historisches Ziel zu erfüllen: die Liquidierung der Nationen. Es ist kein Zufall, dass wir Ungarn in Rotation von ihnen beschimpft werden, weil wir uns für unsere tausendjährige Staatlichkeit, die Souveränität unserer Heimat und für unsere nationale Unabhängigkeit einsetzen. Hieran haben wir uns seit 2010 gewöhnt. Jedoch tritt nicht nur die Linke so auf: Wir finden innerhalb der gesamten politischen Farbskala solche, die durch ihr Verhalten die ihre Heimat hinter sich lassenden Einwanderer auch noch ermuntert haben, damit diese unter der Gefährdung ihres Lebens, in der Hoffnung auf ein besseres Leben die Richtung nach Europa einschlagen. Die Auswirkungen sind für uns und auch für Europa katastrophal: Da Europa nicht in der Lage ist, seine eigenen Außengrenzen zu verteidigen, werden immer weitere und weitere innere Grenzen in dem Europa geschlossen, zu dessen größten Errungenschaften gerade der freie Personen- und der freie Warenverkehr gehört, das was wir im Allgemeinen als Schengen bezeichnen. Wir stehen also mit Brüssel in einer Diskussion. Wir identifizieren etwas anderes als das Problem, wir halten andere Mittel für zweckmäßig, wir sehen die Auswirkungen anders, wir denken anders darüber, was geschehen wird, wenn wir gewisse Schritte machen beziehungsweise diese unterlassen. Was gewiss ist: Wir müssen eine Reihe europäischer Errungenschaften, Verträge und Institutionen neu überdenken, doch bis es dazu kommt, dürfen wir nicht tatenlos herumsitzen. Solange Europa nicht in der Lage sein wird, einheitlich zu handeln, werden die einzelnen Nationalstaaten gezwungen sein, sich in einem über ihre Kräfte hinausgehenden Kampf, unter Aufbringung schwerwiegender Opfer gegen diese, eine brutale Kraft besitzende Bedrohung zu verteidigen.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir haben auch bisher alles getan, wozu wir dem Gesetz nach die Möglichkeit hatten. Auch hiernach werden wir über unsere Kräfte Hinausgehendes leisten. Ich glaube, die Menschen erwarten dies von uns. Mehr als eine Million ungarische Staatsbürger haben im Zusammenhang mit der Frage der Einwanderung ihre Meinung geäußert. Die detaillierten Ergebnisse der Nationalen Konsultation kann nunmehr ein jeder lesen, wir haben sie auch im Internet veröffentlicht. Mehr als achtzig Prozent der Ungarn meinen, dass die verfehlte Einwanderungspolitik Brüssels gescheitert ist und die Vorschriften verschärft werden müssen.

Sehr geehrte Mitabgeordnete!

Die ungarischen Menschen haben entschieden: das Land muss verteidigt werden. Jeder Schritt, den die ungarische Regierung bisher getan hat, und jede Maßnahme, die sie ergreifen wird, ist aus dieser befehlenden Pflicht ableitbar. 2015 gibt es in Ungarn zwei politische Richtungen: jene, die Ungarn, die ungarischen Menschen schützen will, die unsere nationale Kultur und unser Europäertum bewahren möchte, und es gibt die andere, die aus irgendeiner Überlegung heraus dagegen arbeitet.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir bauen nicht aus einer heiteren Laune heraus die mehrere hundert Kilometer lange Grenzsperre auf und haben sie auch bisher nicht so gebaut. Wir haben das Hohe Haus nicht zum Spaß früher zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengerufen, um mit der Modifizierung von Gesetzen jenen rechtlichen Zustand zu schaffen, der es uns ermöglicht, die Völkerwanderung aufzuhalten und die ungarischen Staatsbürger sowie ihre Familien zu verteidigen. Wir wenden eigene Lösungen nicht aus irgendeiner Exzentrik heraus an, sondern versuchen einfach unsere vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten.

Sehr geehrte Mitabgeordnete!

Was ist zu erwarten? Ich bitte jeden, nicht zu glauben, dass das Problem sich von einem Tag zum anderen einfach nur so auflösen wird. Ich bitte darum, dass sich niemand in Illusionen darüber wiegen sollte, dass die gefällten Entscheidungen der Regierung an sich jene Menschenflut aufhalten werden, die ganz Europa unter Druck hält. Stattdessen sollten wir uns darauf vorbereiten, dass wir am Anfang einer langen Auseinandersetzung stehen. Im Namen der Regierung kann ich Ihnen versichern, dass wir alles dafür unternehmen werden, Ungarn, die Landesgrenzen und die ungarischen Menschen zu beschützen. Wir harren aus und werden hierin nicht nachlassen. Doch solange es keinen gemeinsamen europäischen Aktionsplan gibt, können wir das Problem nicht aus der Welt schaffen, wir können im nationalen Rahmen damit umgehen, jedoch lösen können wir es nicht.

Wir haben einen Lösungsvorschlag, der unsere Länder in Richtung auf einen funktionierenden gesamteuropäischen Aktionsplan führen kann. Es handelt sich um Lösungswege, die vom einfachen, logischen und nüchternen Geist diktiert worden sind. Wenn zum Beispiel unsere griechischen Freunde weder die Grenzen Europas noch die Schengen-Grenzen zu verteidigen in der Lage sind, dann müssen wir diese an ihrer Stelle verteidigen, alle achtundzwanzig Mitgliedstaaten sollen an der Verteidigung der Südgrenze Europas teilnehmen. Ebenso eindeutig ist, dass anstatt das Problem in die Richtung von Europas Herz zu ziehen, wir viel eher am Knotenpunkt, in der Region seiner Entstehung handeln sollten, deshalb müssen wir die Flüchtlingslager – oder wie auch immer sie genannt werden sollen – nicht innerhalb der Europäischen Union, sondern außerhalb dieser errichten. Wir müssen jenen Ländern helfen, die auch so schon mehrere Millionen von Kriegsflüchtlingen angesiedelt haben, damit sie jenen Menschen auch menschenwürdige Verhältnisse bieten können, die nicht nach Europa kommen wollen, sondern nach dem Krieg nach Hause zurückkehren möchten.

Vorschläge des Typs wie die Quotenregelung beziehen sich nur auf die Auswirkungen, nicht aber auf die Behebung der Ursachen. Dies ist kein europäischer Aktionsplan. Die Grundphilosophie des Quotensystems zielt nicht darauf ab, dass keine weiteren Wirtschaftsflüchtlinge mehr nach Europa kommen sollen oder darauf, Europa und die europäische Lebensweise zu verteidigen. Stattdessen würde es das Problem auffächern, aus der meiner Ansicht nach verschwiegenen Erkenntnis ausgehend, dass jene Einwanderer, die bereits illegal nach Europa hereingekommen sind, wohl kaum mehr nach Hause zurückwollen. Hierzu sagen wir, Ungarn: In Brüssel sitzt man verkehrt auf dem Pferd. Unser Vorschlag ist, zuerst sollten wir der Völkerwanderung vorbeugen, und dann können wir, nachdem wir unsere Grenzen verteidigt haben, darüber sprechen, was wir mit jenen anfangen sollen, die hierher gekommen sind oder hierher kommen möchten. Jedenfalls müssen wir erreichen, dass sie die Gesetze respektieren. Wir müssen einem jeden klar machen, dass Europa dadurch Europa ist, weil es hier klare Regeln für das Zusammenleben gibt. Die Macht der Gesetze bedeutet in Europa nicht Unterdrückung, sondern Schutz und Sicherheit. Wir müssen auch klarstellen, dass hier ein jeder dafür gearbeitet hat, um in Frieden und Sicherheit leben zu können. Hierfür haben die Menschen, jeder für sich, und gemeinsam auch die nationalen Gemeinschaften gearbeitet. Hier stellt der Wohlstand kein subjektives Recht dar, für den Wohlstand muss man hier in Europa arbeiten.

Sehr geehrte Mitabgeordnete!

Zum Abschluss bitte ich Sie alle darum, dass Sie ungeachtet Ihrer Parteizugehörigkeit die ungarische Regierung in ihrem Kampf gegen die massenweise Einwanderung unterstützen. Weil wir nur eine Heimat haben und wir alle zur Pflicht haben, sie zu verteidigen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

(Prime Minister's Office)