Interview der Tageszeitung Napi Gazdaság mit Viktor Orbán am 3. Juni 2015. Von Péter Csermely.

Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Rede zum fünften Jahrestag Ihrer Regierungszeit die Bemerkung gemacht, dass sich die Politik der Regierung ändern wird, und das Leitprinzip von nun an anstatt Kraft, die Aufmerksamkeit sein wird. Steigt damit die FIDESZ auch in die Schmusekurs-Kampagne ein? Nach bisherigen Erfahrungen hat sich das für die Jobbik ausgezahlt.

Die FIDESZ und die KDNP unterscheiden sich von ihren Gegnern, die auf den Wellen der Popularität reiten, dahingehend, dass wir dazu in der Lage sind, gleichzeitig in mehreren Dimensionen zu denken. Diese Eigenschaft ist in der modernen Politik vom Aussterben bedroht, da es heutzutage überall nur um das Morgen, die nächste Woche oder im besten Fall noch um die nächsten Wahlen geht. Wir aber sind uns darüber völlig im Klaren, welche Gefahren ein eindimensionales Denken für Osteuropa, und insbesondere für das sich im Zustand der ständigen Bedrohung befindenden Ungartum und das Land Ungarn in sich bergen. Wir müssen gleichzeitig auch in einer historischen Ebene denken, beispielsweise, wenn wir uns darüber freuen, dass im Jahr 2014 das Wirtschaftswachstum bei 3,6 % lag, wird von uns ebenfalls in Betracht gezogen, dass das ungarische Wirtschaftswachstum in den letzten hundert Jahren bei durchschnittlich 2,1 % gelegen hat. Wir bewerten unsere Politik immer auch aus dem Blickwinkel der nationalen Souveränität. Es mag zwar sein, dass gerade niemand beabsichtigt, unser Land zu besetzen und wir gerade keiner militärischen Bedrohung ausgesetzt sind, aber dennoch gilt das Bestimmungsrecht über Ressourcen, die das Leben unserer nationalen Gemeinschaft dauerhaft bestimmen, als ein Aspekt, dem in unserer Politik stets Gewicht verliehen wird. Im Gegensatz dazu gelten für uns Aspekte, wie Stil, eine liebenswerte Darstellung unserer selbst, Radikalität oder ein kurzfristiger Nutzwert lediglich als zweitrangige Faktoren.

Sind Sie der Meinung, dass lediglich die Regierungsparteien dazu in der Lage sind, in einem komplexen Beziehungssystem Politik zu betreiben? Unterschätzen Sie Ihre Gegner diesbezüglich nicht zu sehr?

Die Linken, mit ihren internationalen Wurzeln verfügen zweifelsohne über das Wissen, wie Ungarn in einem internationalen Umfeld so zu platzieren ist, dass über die Ressourcen, die für eine Souveränität erforderlich sind, immer Ausländer verfügen, und darüber, wie Ungarn in großen politischen Fragen immer nur die Option bleibt, sich einzuordnen, aber niemals die Möglichkeit zur Wahl eines eigenständigen Weges.

Wir sind Mitglied in der Europäischen Union und der NATO. Warum ist Ihnen die Auseinandersetzung mit dem Zustand unserer Souveränität so überaus wichtig? Wir sind derzeit genauso souverän, wie dies alle anderen Mitgliedstaaten der Union auch sind.

Aber nur auf den ersten Blick. Damit sich Ungarn als Mitglied der Europäischen Union und der NATO tatsächlich souverän fühlen kann, müssen wir in vier Bereichen über einen starken Einfluss verfügen. Ich formuliere es bewusst so, dass wir nicht über einen ausschließlichen Einfluss in diesen Bereichen verfügen müssen, und dies unter den Vorgaben der modernen Weltwirtschaft auch nicht möglich wäre, aber ich sage auch nicht auf eine Weise, die uns den Wettbewerb erspart, da dies ebenfalls nicht möglich wäre. Der erste Bereich betrifft den Bankensektor. Hier stehen wir gut da. Das Verhältnis des ungarischen Eigentumsanteils liegt in diesem Sektor bereits bei über fünfzig Prozent. Der zweite Bereich sind die Medien, da ein Land, in dem die Mehrheit der Mittel, mit denen das öffentliche Denken gestaltet wird, in den Händen von Ausländern liegt, nicht souverän ist. Diesbezüglich könnten wir auch besser dastehen. Der dritte Bereich bezieht sich auf den Energiesektor, der ähnlich wie die Banken langsam in Ordnung gebracht wird, und sich auch noch weiter verbessern wird. Der vierte Bereich ist der Handel, insbesondere der Lebensmitteleinzelhandel, bei dem das angestrebte Ziel ebenfalls noch in weiter Ferne liegt. Diese vier Bereiche wurden in der Vergangenheit einer nach dem anderen in ausländisches Eigentum überspielt, wodurch die Souveränität Ungarns hier lediglich von staatsrechtlichem Charakter in Erscheinung treten kann. Allerdings ist zu einer echten Selbstbestimmung auch die Existenz einer politischen Klasse erforderlich, die durch Wirtschaftsfaktoren und durch Wirtschafts- und Medienkraftgruppierungen aus dem Ausland nicht beeinflusst werden kann. Österreich oder die Niederlande könnten hierfür als gute Beispiele für Ungarn dienen. Um dies nach dem Jahr 2010 verändern zu können, war Kraft erforderlich, und zwar große Kraft, weil wir den Kampf, den wir für unsere Souveränität geführt haben, nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch mit einer Krisenbewältigungspolitik kombinieren mussten. Die erforderliche Kraft war auch vorhanden, und wir haben sie gemäß dem Mandat eingesetzt, das uns von den Wählern erteilt wurde, wobei man aber nicht allzu lange nur die Sprache der Kraft sprechen sollte. Man kann nicht ständig zum Kampf aufrufen, und ein ganzes Land ständig für seine Unterstützung mobilmachen. Man muss klarstellen, dass der Kampf keinem Selbstzweck dient, sondern für ein ausgeglichenes, fröhliches und erfolgreiches Ungarn geführt wurde. Die Kraftpolitik der letzten fünf Jahre hat die Energiereserven des Landes verbraucht und erschöpft. Jetzt ist es an der Zeit, zu zeigen, welchen Sinn dieser umfassende Kampf gehabt hat. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Auch der Nutzen der Kämpfe muss auf allen Ebenen, angefangen vom Familienbudget bis hin zum Zustand des öffentlichen Lebens, sichtbar gemacht werden.

Kann eine aufmerksame FIDESZ überhaupt authentisch wirken? Wenn jemand jeden Tag in die Kneipe geht, um jedem eine Ohrfeige zu verpassen, dann werden die Gäste auch dann vor ihm das Weite suchen, wenn eines Tages die gleiche Person  mit einer Torte auftaucht.

In der Politik geschieht nichts von einem Tag auf den Anderen. Die Kommunisten haben vielleicht noch daran geglaubt, dass, wenn sie einen Parteibeschluss herausgeben, sich dann sofort auch die Parteipolitik und die Meinung der Menschen ändern, wobei am Ende nicht einmal mehr die Kommunisten daran geglaubt haben. Jeder politische Prozess geht langsam von statten und verhält sich stufenweise. Ich halte deshalb die Verabschiedung des neuen Haushalts für einen Meilenstein, nach dem sich die Veränderungen beschleunigen könnten.

Wird dies zufälligerweise nicht die gewisse Konsolidierung sein, die von Ihnen bereits von weiten Kreisen - sowohl von Ihren Freunden, als auch von Ihren Gegnern - erwartet wurde?

 

Tatsächlich kommt diese Frage von Jahr zu Jahr immer wieder auf. Die wirkliche Frage lautet aber wie folgt: Was ist die Grundlage der Konsolidierung? Was wird überhaupt konsolidiert? Solange wir die wichtigen strukturellen Umgestaltungen, die hinsichtlich unserer nationalen Souveränität so wichtig sind, nicht durchgeführt haben, und unsere ausgelieferte finanzielle Situation nicht beseitigt haben, und kein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum in Gang gesetzt haben, und das neue Steuersystem nicht verwurzeln haben, so lange gibt es nichts, das man konsolidieren könnte. Die Frage lautet also nicht, ob es sich um einen Kampf oder eine Konsolidierung handelt, sondern, ob die politischen und gesellschaftlichen Strukturen bereits entstanden sind, die für die Ungarn ein langfristiges Wachstum ermöglichen. Meiner Meinung nach sind wir bereits sehr nahe an diesem Punkt angelangt, und all das, was wir bereits erreicht haben, kann auch konsolidiert werden. Wir können uns endlich damit beschäftigen, wofür wir das Ganze vor rund dreißig Jahren begonnen haben. Die Zeit ist reif und wir haben die Voraussetzungen geschaffen. Jetzt kann die bürgerliche Einrichtungsphase beginnen. Jeder von uns kann einen Schritt nach vorne tun. Wir können für diejenigen, die von ihrer Arbeit leben, bequemere und wohltuendere Lebensbedingungen schaffen. Mehr Arbeitsplätze, weniger Steuern, soziale Familienleistungen, größere Ordnung, aber mit weniger Regulierungen und die Behauptung unseres Standpunktes mit dem gebührenden Stolz.

Dennoch deckt sich diese Wendung und deren Ankündigung zeitlich viel zu sehr mit dem gewaltigen Popularitätsverlust der FIDESZ, mit dem verloren gegangenen Zweidrittel-Mandat, das anlässlich der Interimswahlen verloren ging, und mit dem Zwiespalt des rechten Lagers, und mit den verschleierten oder offenen Grabenkämpfen von FIDESZ-Politikern.

Abgesehen von einer Gnadenfrist von einigen Monaten, die uns Anfang 2010 gewährt wurde, lebe ich ständig in dieser Atmosphäre. Ich kann nicht zwischen ruhigen und unruhigen Zeitabschnitten, sondern höchstens zwischen den Arten der Besorgnisse wählen. Jeder Beruf stellt einige Grundvoraussetzungen, und das trifft natürlich auch auf die Politik zu. Die Politik ist die Welt von ständigen Interessenkonflikten, von aufeinandertreffenden gegensätzlichen Ambitionen und kontroversen Ansichten. Falls dies jemand nicht mit kühlem Kopf, mit guter Laune und mit Humor erträgt, sollte sich nach einer anderen Beschäftigung umsehen. Ich habe diese Bedingungen mit einer ruhigen Resignation beobachtet, und natürlich möchte jeder Politiker, dass diese Dinge verschwinden, wobei sich jeder dennoch darüber im Klaren ist, dass es diese gibt, und immer geben wird. Die Popularität ist eine Sache, die einmal hoch oben, einmal tief unten ist, die Menschen sind einmal mit uns einer Meinung, einmal nicht, und die Angriffe sind einmal stärker, einmal schwächer, bleiben aber nie aus. Und es kann nicht sein, dass man keine Fehler macht, und die Fehler ziehen sofort Konsequenzen nach sich. Was den Zwiespalt des rechten Lagers betrifft: die geistige Welt der Rechten ist eine denkende Welt, und gehört nach der Aufteilung von István Bibó in die Kategorie der „überspannten Vision des Wesentlichen”. Ich verwende diesen Ausdruck in einem positiven Sinne, mir imponiert das. Die stärkste Gruppierung der Rechten vertritt in der Öffentlichkeit einen geistigen Radikalismus, aus dem natürlich kein politischer, und insbesondere kein praktischer Radikalismus resultiert, wobei sie die Prozesse bis hin zur letzten Konsequenz überdenkt. Aus dem Verlust einer Interimswahl heute, kommen diese deshalb mit einer Leichtigkeit zu der Vision, das man auch die nächsten, erst nach Jahren fälligen Parlamentswahlen verlieren wird. In dieser Hinsicht hat man natürlich schon Recht, dass man auf alle noch so kleinen Details achten muss, da die Ungarn zu einer gefährdeten Art gehören. Es reicht nur einmal, nicht aufzupassen, nur einmal etwas zu vermasseln, und schon ziehen wir für eine sehr lange Zeit den Kürzeren, wofür in unserer Geschichte zahlreiche Beispiele zu finden sind. Jemand hat einmal geschrieben, dass die Ungarn sogar die Luft radikal einatmen müssen.

In Demokratien gilt als etablierte Gewohnheit, dass verkündete politische Wendungen gegebenenfalls durch Regierungsumbildungen plastisch gemacht werden. Man kann derzeit diesbezüglich zwar einiges hören, obwohl Sie nur im seltensten Fall zu diesem Mittel greifen.

Ja, das ist richtig, und zwar deshalb, weil dieses Mittel wie eine Droge wirkt. Man hat das Gefühl, dass es schön wäre, einmal den Abend etwas leichter zu gestalten, die Last von den Schultern abzuwerfen, und neigt dabei dazu, einen Weg zu wählen, der einem als der einfachste erscheint. Man nimmt irgendeine Droge zu sich, oder trinkt eine ganze Flasche Schnaps, und beim nächsten Mal merkt man gar nicht mehr, dass man sich wieder automatisch für die gleiche Lösung entscheidet. Eine Regierungsumbildung wäre das Einfachste. Ist ein Minister unpopulär? Dann rufen wir ihn ab. Hat er einen Fehler gemacht? Dann rufen wir ihn ab. Eventuell habe ich selbst einen Fehler gemacht? Auch dann sollten wir den Minister abberufen, damit der Fehler niemals herauskommt. Das würde nie ein Ende nehmen. Wenn ich deshalb eine Aufgabe zu lösen habe, reihe ich persönliche Fragen immer ganz hinten, ganz am Schluss ein. Dazu kommt noch, dass das wichtigste Ziel der Politik darin besteht, Stabilität zu schaffen, wobei eine Regierung mit einer ständig geänderten Zusammensetzung keinerlei Stabilität zu standen bringen kann.

Das heißt, es wird keine Regierungsumbildung stattfinden?

 

Ich halte derzeit die Abberufung keines einzigen Ministers für notwendig. Fakt ist aber, dass wir ab dem 6. Juni gemeinsam mit den Ministern das vergangene Jahr und die Arbeit der Regierung sowie die Tätigkeit der einzelnen Staatssekretäre im Einzelnen bewerten werden. Auf dieser Ebene werde ich auch Vorschläge unterbreiten, wobei ich auch von den Ministern Signale erhalten habe, die deutlich machen, dass unter den Staatssekretären der eine oder andere Austausch stattfinden wird, was aber weder die Zielsetzungen der Regierung, noch die Beziehungen zwischen der Regierung und der FIDESZ betreffen wird.

Es gibt noch einige tagesaktuelle Nachrichten, die zurzeit überall kursieren …

Nein, ich werde nicht der Präsident der Republik. Von meinem Rücktritt ist auch überhaupt nicht die Rede. Auch nicht von irgendeiner eventuellen Amtsübernahme in Europa. Es gibt überhaupt keine Bewegungen hinsichtlich einer Nachfolgeregelung innerhalb der FIDESZ, und ich werde diese Arbeit ganz bestimmt weiterführen, und werde dieses Amt solange wahrnehmen, wie mir die Wähler hierzu das Mandat erteilen werden. Haben Sie in Ihrer Frage an diese Dinge gedacht?

Ja, schon. Im Grunde blieb nur eine einzige Sache unbeantwortet: wird Antal Rogán Ihr politischer Kabinettschef?

Derzeit würde ich die Leistung der Regierung wie folgt zusammenfassen: wir regieren akzeptabel, vielleicht sogar ganz gut, aber unsere politische Performance ist schwach. Um aber das Vertrauen in uns aufrecht zu erhalten, und von den Wählern erneut ein Mandat zu erhalten, reicht eine noch so erfolgreiche Regierungsarbeit nicht aus. Dazu müssen wir auch eine gute politische Performance vorlegen, gleichgültig, was dies auch immer bedeuten mag. Meine Arbeit ist im Moment auf Grundlage der Logik der Regierung und der öffentlichen Verwaltung organisiert, weshalb ich auch Mitstreiter benötige, die mir bei der politischen Arbeit helfen. Von den potentiellen Kandidaten steht zweifelsohne der Fraktionsführer, Herr Antal Rogán, an erster Stelle.

In Ihrer bereits zitierten Rede haben Sie die Jobbik als führende Oppositionspartei bezeichnet. Was wird damit aus unseren lieben Linken? Werden sie Ihnen, nach so vielen Jahrzehnten, nicht fehlen?

Die heutige Linke hat respektable, schmerzliche und bisher erfolglose Versuche unternommen, anstelle des noch von Moskau eingetrichterten internationalistischen Selbstbildes mit Reichsmentalität, das die traditionelle Gemeinschaft und Nation sowie die Werte und Gedanken, die zu einer Nation gehören, in einem großen Internationalismus aufzulösen beabsichtigte, ihre linke Identität auf eine nationale Grundlage zu stellen. Die gesamte Symbiose mit der SZDSZ kann durch diese Spannung und Kampf charakterisiert werden. Ich wünsche zwar nicht, dass sie uns bei den Wahlen besiegen, aber dass wünsche ich schon, dass unser Land endlich ein linkes Lager erhält, dass bereit ist, auf dem Boden der nationalen ungarischen Interessen zu stehen, und sich bemüht, die ungarische Nation kulturell und mit ihren wirtschaftlichen Interessen und politischer Souveränität im internationalen Zusammenspiel zu erhalten. Es scheint zwar so, dass dies noch etwas dauern wird, aber ich erkenne an, dass die Linken heldenhafte Anstrengungen unternehmen, um ihr neues Ich zu finden. Was die Jobbik betrifft, stellt die Jobbik für Ungarn eine Gefahr dar, wobei man die Gefahr auch nicht übertrieben darstellen sollte. Es wird sich noch herausstellen, ob sich das Königreich der Jobbik auf der oppositionellen Seite nicht nur als ein Pfingstkönigreich entpuppt. Sie stellen aber in der Tat eine Gefahr dar, da sie eine kontinuierliche Versuchung darstellen, und suggerieren ständig, die intellektuellen Waffen zu strecken, und den allereinfachsten Lösungen den Vorrang zu geben. Ihre ständig wiederkehrende Argumentation geht dahin, dass wir uns von diesen und jenen entledigen sollten, womit sich dann alles zum Besseren wenden wird, so die Aussage. Diese Art des Denkens hat bereits den Ungarn viel Ungemach eingebracht, und man kann damit grundsätzlich keinen Erfolg erzielen. Darin gleicht sich jedoch die gesamte Opposition: das Land heute den Linken oder der Jobbik anzuvertrauen, würde einer Versuchung Gottes gleichkommen. Es gehen Umwälzungen von so großen und weltweiten Dimensionen vor sich, wobei die Welt von einer Krise zur anderen hinkt, und wenn wir dabei die Entwicklung der Militärbudgets der Großmächte, oder allein die Entwicklung der Militärausgaben in unserer Region betrachten, und uns einmal ansehen, wie sich der Anteil am Welthandel verändert, mit der Anmerkung, dass dies leider zu Lasten Europas vor sich geht, und wenn wir uns anschauen, wie sich der Beitrag der verschiedenen Kontinente zur Gesamtweltwirtschaftsproduktion verändert, müssen wir erkennen, dass, wenn Ungarn diese Trends nicht richtig deuten kann, nicht richtig analysiert, und hierzu die Lage falsch erfasst, und den schmalen Pfad nicht präzise markiert, auf dem wir gezwungen sind, in den nächsten Jahrzehnten zu laufen, damit wir nicht zu den Verlierern gehören, können noch Probleme in heute noch unvorstellbarem Ausmaß auf uns zukommen. Und dann haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, dass wir in einer Ära der bisher größten, den gesamten Planeten erfassenden Völkerwanderung leben.

Als eine der Gefahren, die die Jobbik darstellt, haben Sie die Art der Politik nach der Devise „entledigen wir uns von diesen und jenen” erwähnt. Verhält sich die FIDESZ in der Frage der Einwanderung nicht genauso?

Nein. Wir möchten uns niemandem, der mit uns zusammen lebt, entledigen, wir möchten lediglich nicht weitere hineinlassen. Die Dimension und geographische Lage Ungarns macht uns besonders verletzlich. Wenn wir beim Thema Einwanderung nur einen einzigen Fehler machen, und wenn wir nur für einen Moment die Harmonie zwischen Herz und Vernunft aufgeben, dann werden hier solche Veränderungen eintreten, die man hinterher nicht mehr in Ordnung bringen kann. Unsere Gegner, wobei ich der Meinung bin, dass die Linke diese Halbwahrheit aus Unaufrichtigkeit und die rechtsextreme Seite aus Unwissenheit regelmäßig begeht, stellen die Frage des Multikulturalismus stets in falschen Farben dar. Dass der Multikulturalismus an seinem Ende angelangt ist, wurde zuerst von der deutschen Kanzlerin, Angela Merker verkündet. Multikulturalismus bedeutet übrigens die Vermischung von verschiedenen Zivilisationen. Wenn ein Land aus vielen Nationen besteht, ist dies ein völlig anderer Fall. Ungarn verfügt über Wurzeln und einen kulturellen Hintergrund mit vielen Nationalitäten, das ist aber kein Multikulturalismus. Multikulturalismus bedeutet das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichem zivilisatorischem Hintergrund, das Zusammenleben des Islams, der asiatischen Religionen und des Christentums. Wir werden alles dafür tun, dass Ungarn dies erspart bleibt. Bei uns sind Investoren, Künstler, Wissenschaftler aus nicht christlichen Ländern willkommen, wir möchten uns aber nicht mit ihnen auf einer Ebene großer Menschenmassen vermischen.

Interessieren sich die Ungarn überhaupt für diese Sache? Im Rahmen der in dieser Angelegenheit durchgeführten Nationalen Konsultation gingen bisher ziemlich wenige Antworten ein.

Ich habe gehört, dass bereits dreihunderttausend Briefe zurückgesandt wurden, und noch nicht einmal alle haben den Fragebogen erhalten. Ich bin mir dessen völlig im Klaren, dass auch die Aktivität im öffentlichen Leben der Ungarn gewisse Grenzen aufgibt. Und jetzt dazu, was das Interesse angeht. Wenn ein Ungar heute nach West-Europa reist, sagen wir einmal auf der Route Wien–München–Paris–London reist, und nach Hause kommt, dann bin ich mir ganz sicher, dass er sich für diese Frage interessieren wird. Ich möchte gar nicht darüber sprechen, ob diese besser oder schlechter als wir sind, sondern darüber, dass wir heute bereits genau wissen, dass diese Form des Zusammenlebens in Europa kein Ergebnis erzielt hat.

Die Daten der ungarischen Wirtschaft fallen gut aus. Ich möchte diese deshalb auch gar nicht im Einzelnen hinterfragen, sondern versuchen, das Thema als Ganzes zusammenzufassen. Wir sind so weit. Ungarn könnte im Grunde den Euro einführen. Wir tun es aber nicht, und reden noch nicht einmal darüber. Warum ist das so?

Genauso ist das, und es ist kein Zufall, dass dieses Thema als eines der Hauptthemen bei der in den letzten Tagen abgeschlossenen polnischen Präsidentenwahl galt. Polen wäre nämlich bereits ebenfalls geeignet, den Euro einzuführen, und unter dem Titel Präsidentenwahl wurde im Wesentlichen sogar genau diese gesellschaftliche Diskussion geführt, wobei man letztendlich gegen den Euro gestimmt hat. Dieses Phänomen ist deshalb kein ungarisches, sondern ein mitteleuropäisches. Früher mag es als attraktiver und logischer Gedanke erschienen sein, unter Aufgabe unserer eigenen Währung sich einem sicheren und viele Vorteile bietenden Finanzraum anzuschließen, der von Ländern ins Leben gerufen wurde, die in ihrer Entwicklung vor uns standen. Dieses Wunschdenken ist aber dann nach Ausbruch und Ausweitung der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 zerplatzt, da die ganze Welt in diesen Jahren lernen musste, dass gerade die Eurozone die Probleme, die von der Krise an die Oberfläche gefördert wurden, am zähesten gemanagt hat. Aber solche Finanzkrisen können immer wieder und jederzeit wieder auftreten, sogar in Serie.

Das heißt also, dass wir den Euro gar nicht einführen wollen?

Ungarn, ähnlich wie ganz Mitteleuropa wartet jetzt erst einmal ab. Die kleineren Länder, insbesondere die baltischen Staaten sind der Eurozone beigetreten, deren Größe von vornherein Zweifel aufgeworfen haben, ob eine eigene Währung tatsächlich eine größere Sicherheit darstellt. Im Falle Ungarns, Tschechiens und insbesondere Polens aber gilt heute das Stehen auf eigenen Beinen als wettbewerbsfähige Alternative.

Gilt aber die Existenz des Forints, selbst in einem noch so starken Zustand, nicht von vornherein als riskanter, als die Einführung des Euros, selbst wenn in der Eurozone die Krise noch andauert?

Falls die Regierung eine entsprechende Finanzpolitik und die Nationalbank eine qualitative monetäre Politik praktiziert, dann kann eine nationale Währung für ein Land mit Zehnmillionen Einwohnern eine ausdrückliche Ressource darstellen. Hierzu ist aber die Staatsverschuldung weiter zu drosseln, damit der Forint nicht über diese verwundbar bleibt, und nach Möglichkeit gilt es, das Wirtschaftswachstum zu steigern sowie das Haushaltsdefizit weiterhin konsequent im Bereich unter 3 % zu halten. Wenn dies alles erfüllt werden kann, dann bleibt der Forint auch in den kommenden Jahrzehnten eine stabile und starke Währung.

Jahrzehnte?

Wenn es sein muss, dann Jahrzehnte.

In den letzten Jahren galt Ungarn innerhalb der Union als schwarzes Schaf, und blieb meistens auch alleine. Zur Zeit gelten wir zwar immer noch als schwarzes Schaf, man bekommt aber immer mehr den Eindruck, als würden sich immer mehr Länder, zwar still und leise, aber dennoch hinter der einen oder anderen – große Resonanz auslösenden - Wortmeldung Ungarns versammeln.

 

Auch die europäische Politik ist Veränderungen unterworfen. Die Denkweise der Eliten, die Europa führen, wurde bisher von der Auffassung bestimmt, die wir zwar vereinfacht, aber ruhig als Liberalismus bezeichnen dürfen. Diese Konzeption erfuhr in der letzten Vergangenheit riesige Herausforderungen. Eine dieser Herausforderungen bestand in der eigenen Schwäche, die sich gerade im Management der Finanzkrise gezeigt hat. Die andere Herausforderung besteht darin, dass andere Zivilisationsgebiete sich rascher entwickeln, als wir dies tun, und dies im völligen Widerspruch zum europäischen Selbstbild und Selbstbewusstsein steht. Die dritte Herausforderung besteht darin, dass in Europa inzwischen politische Bewegungen aufgestiegen sind, die nie den Teil des Konsenses dieser liberalen Elite, die die Politik, die Medien, das Hochschulwesen, das heißt, das geistige Leben völlig durchdringt, waren. An diese französischen, spanischen, griechischen, italienischen, finnischen oder niederländischen politischen Formationen sollte man immer in der angebrachten Weise mit einem gewissen Argwohn denken. Unter diesen bewegten Umständen müssen wir die Reaktionen interpretieren, die die ungarische Wirtschaftspolitik, die ihren eigenen Weg geht, ausgelöst hat. Die ungarischen Ereignisse haben nicht nur gezeigt, dass man Dinge anders machen kann, was bereits an sich als Sakrileg gilt, sondern noch viel mehr, dass man mit diesen Methoden sogar Erfolge erzielen kann. Unser Beispiel hat in den Zentren der europäischen Eliten – zwar keine Angst, da Ungarn schon wegen seiner Größe keine Angst und Bange auslösen kann – für eine gewisse Spannung und Irritation gesorgt, die aus diesem Grunde das ungarische Beispiel als eine renegate Bedrohung, und nicht, wie man es ebenfalls betrachten könnte, als eine Erfolgstory ansehen.

(Amt des Ministerpräsidenten)