Budapest, 16. Juni 2018
Guten Tag, meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Auslandsbüroleiter Spengler! Lieber Herr Vorsitzender Zoltán Balog!
Wir haben uns mit dem Herrn Vorsitzenden Zoltán Balog über die Arbeitsteilung verständigt, dass ich geradeheraus und unverblümt sprechen werde, und er danach bei den Anwesenden um Entschuldigung bittet, dass es so gekommen ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich werde meinerseits diese Vereinbarung einhalten. Die europäische Situation wird heute durch einen erregten und überhitzten Nervenzustand charakterisiert. Viele Dinge sind gleichzeitig in Bewegung. Die Vorzeichen eines Handelskrieges mit den Vereinigten Staaten von Amerika, ein bewaffneter Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, am Horizont erscheint eine neue italienische Politik, Brexit-Verhandlungen. Das heißt jener, der sich heute mit europäischer Politik beschäftigt, benötigt Kaltblütigkeit, ein starkes Nervensystem, Mut und Taktgefühl. Was unser Treffen angeht, so kämpfen wir mit der Fülle des Überflusses. Wir dürfen nicht zu viel auf uns nehmen, denn in der Einladung stand nicht, dass die Zuhörerschaft auch Proviant mit sich bringen soll. Was zeitlich möglich ist, ist unsere Verneigung vor dem Andenken Helmut Kohls, und danach in einigen wichtigen europäischen Fragen den ungarischen Standpunkt zu skizzieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Auslandsbüroleiter Spengler!
In der Politik bedeutet die Fürsorge, dass am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtige Person steht. Es ist daran nichts übertrieben, dass Helmut Kohl das Geschenk der Fürsorge für Deutschland und Europa war. Für uns, Mitteleuropäer, ist Helmut Kohl das Ideal des christlichen europäischen Menschen. Er vertrat das christliche Europa, wohin wir schon immer gehört haben, und nach vierzig Jahren Kommunismus öffnete sein politischer Wille den Weg für unsere Rückkehr in die Gemeinschaft der europäischen Völker. Der politische Mut von Bundeskanzler Kohl schuf die Grundlagen für die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, deshalb zollen wir seinem Andenken immer Respekt und Dankbarkeit. Wie es der ungarische Spruch sagt: Möge ihm die Erde leicht sein!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Was die Verbindungen von Ungarn und der europäischen Politik angeht, so müssen wir als allererstes klären, was überhaupt die Rolle Ungarns in der europäischen Politik sein kann. Ungarn ist sich seiner eigenen Kraft, seines Gewichtes und seiner Aufgabe bewusst. Das nennt man Selbstkenntnis. Die Grundlage und der Ausgangspunkt jedweder guten Politik ist die richtige Selbstkenntnis. Ungarn, als Mitgliedsstaat der Europäischen Union, strebt nicht nach einer europäischen politischen Rolle. Für uns steht Ungarn an erster Stelle, weder das Land noch ich hegen gegenwärtig und auch in der Zukunft solche Ambitionen. 10 Millionen Staatsbürger, ein GDP von 114 Milliarden Euro, weniger als zwanzigtausend Soldaten. Das ist die Realität. Da wir in wichtigen Fragen in ernsthaften Diskussionen mit Brüssel und mit einigen größeren Mitgliedsstaaten stehen, ist der verlockende Schein entstanden, Ungarn könnte die europäische Politik wesentlich beeinflussen. Dieser Verlockung muss man widerstehen und vor allen anderen Dingen müssen wir unsere Kräfte auf die Verteidigung der nationalen Interessen Ungarns konzentrieren. Und an dieser Tatsache ändert auch das nichts, dass ich – wie Sie das aus der Mitteilung am Nachmittag werden ersehen können – vor einigen Minuten die Möglichkeit hatte, mit Herrn Präsidenten Donald Trump telefonisch zu diskutieren, was denn der Unterschied zwischen einer „beautiful wall” und einem „beautiful fence” sei.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wie auch immer es sein mag, das Wesentliche dessen, was ich sagen möchte, ist, dass Ungarn bzw. die Ungarn ein selbstbewusstes, stolzes, aber über eine korrekte Selbstkenntnis und über eine reale Lagebeurteilung verfügendes Volks sind. Wo wir über eindeutige Ambitionen verfügen, das ist Mitteleuropa und die Visegráder Vier. Es ist die ungarische Ambition, dass Ungarn in einer aus starken, eng miteinander zusammenarbeitenden, einander unterstützenden und ermunternden Ländern bestehenden mitteleuropäischen Region leben können soll. Hier zählt es, hier hat jene Kraft Gewicht, die Ungarn vertritt. Ungarn erkennt Polens bestimmende und führende Rolle im mitteleuropäischen Raum an und möchte auch durch seine eigene Kraft die mitteleuropäischen zwischenstaatlichen Beziehungen in die Richtung der Zusammenarbeit leiten. Es ist weiterhin die Ambition Ungarns, die Mitgliedschaft der auf dem Westbalkan befindlichen Länder in der Europäischen Union zu befördern, besonders und ausdrücklich die Mitgliedschaft Serbiens. Es ist unsere Ambition, die anderen Mitgliedsstaaten davon zu überzeugen, dass die Europäische Union dies benötigt und durch diese fortgesetzte Erweiterung an Ressourcen gelangen kann. Helmut Kohl hatte genau verstanden, was es bedeutet, dass die Mitglieder der Europäischen Union gleichberechtigt sind. Sicherlich nicht, dass sie das gleiche Gewicht besäßen. Das Schlüsselwort heißt hier „Augenhöhe“. Wenn ich dieses deutsche Wort richtig verstehe, dann geht es hier um die gleiche Höhe, was vielleicht auch in einer kulturellen Übersetzung stimmt. Dies kann zu uns passen, denn wir sind ein Volk mit einem gleichordnenden Gedankengang, vielleicht die einzigen in ganz Europa.
Erlauben Sie mir hiernach einige Worte zu den Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn zu sagen. Vor zwei Jahren besuchte ich das Haus Konrad Adenauers in Rhöndorf, konnte die Skulpturen von Adenauer und de Gaulle sehen. Imre Varga hat sie geschaffen. Er hat auch jene Statue des Heiligen Stephan angefertigt, die vor der ungarischen Kapelle des stolzen Domes des christlichen Europas in Aachen steht. Diese Antwort ist auch für einen Deutschen eine verstehbare Antwort auf die historische und ideologische Frage, wohin denn Ungarn gehöre. Kohl hatte verstanden, dass es viel wert ist, wenn Deutschland Freunde besitzt, auch damals standen sie in dieser Frage nicht besonders gut da. Helmut Kohl wusste unsere Freundschaft auch zu schätzen. In Ungarn gibt es einen Gedenktag der Aussiedlung der Deutschen. In Ungarn verfügen die Deutschen über einen eigenen Abgeordneten im Parlament. In Ungarn leben dreizehn nationale und ethnische Minderheiten, dies bedeutet zugleich eine ethnische Vielfalt und eine zivilisatorisch-kulturelle Homogenität. Die Zahl der deutschen Schulen und auch der dort lernenden Schüler nimmt zu.
Wenn wir über die deutsch–ungarischen Beziehungen reden, müssen wir uns auch an 1989 erinnern. Helmut Kohl hatte verstanden, dass die ungarische Souveränität und die deutsche Einheit organisch miteinander verbunden waren. Den ersten Ziegel hatte Ungarn aus der Berliner Mauer herausgeschlagen. 1989 wollten uns viele von der Grenzöffnung abraten.
1989 wollten viele Helmut Kohl von der deutschen Vereinigung und der NATO-Mitgliedschaft des einheitlichen Deutschland abraten. Es gab wenige Nationen wie die ungarische – wenn es überhaupt solche gab –, die keine Angst vor der deutschen Wiedervereinigung hatten. 1990 lag das Maß der Unterstützung der deutschen Vereinigung unter den Ungarn höher als unter den Deutschen. Heute sehe ich europäische Politiker, die damals gegen die deutsche Vereinigung waren und uns heute über die europäische Gesinnung belehren wollen. Und dann wurde Ungarn Mitglied der Europäischen Union. Vielen Dank dafür an Deutschland!
Ich muss bei diesem heutigen Anlass auch sagen, dass die deutschen Steuerzahler keine Befürchtungen haben müssen. Wir sind nicht zum Betteln in die Europäische Union gekommen, wir wollen nicht vom deutschen Geld leben. Wir bereiten uns darauf vor, dass Ungarn bis 2030 zu einem Nettozahler der Europäischen Union wird. Hinzu kommt noch, dass der Handel Deutschlands mit den V4-Ländern insgesamt schon deutlich größer ist als zum Beispiel mit Frankreich, Italien oder den Briten. Die Deutschen und auch die anderen Mitgliedsstaaten verdienen schön an uns, es lohnt sich weder für sie noch für uns, sich zu beklagen.
Hinzu kommt noch, dass es ein wichtiges Element der deutsch–ungarischen Beziehungen darstellt, dass wir ausschließlich aus eigener Kraft die südliche Grenze und damit auch Deutschland vor der Ankunft von täglich etwa zwölftausend Migranten beschützen. Wir haben weder Deutschland noch Europa im Stich gelassen. Wie wir es sagten, sind wir Kapitäne von Grenzburgen, und wir wissen, was unsere Pflicht ist. Die 1989er und die 2015er Lehre aus den deutsch–ungarischen Beziehungen ist die gleiche. Wenn der Moment kommt, darf man nicht zögern, man muss entscheiden und handeln, man muss sich einsetzen. Wir haben dies sowohl 1989 als auch 2015 getan.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Jetzt etwas über die Grenze und den Zaun. Die Außengrenze muss verteidigt werden, dies ist die Vorbedingung für den freien Verkehr im Inneren. Der Schutz der Grenze ist eine obligatorische Hausaufgabe. Der Grenzschutz ist keine gesamteuropäische, sondern eine nationale Aufgabe, die der Mitgliedsstaaten. Eine europäische Hilfe kann geleistet werden, jedoch ist die Verantwortung national. Wir sehen, wie der zuvor verurteilte ungarische Standpunkt immer akzeptierter wird. Wir erwarten keinen Dank, wir sind nicht daran gewöhnt, und wir werden auch nicht triumphieren. Es verursacht keine Freude, zu sehen, dass manche drei Jahre gebraucht haben, um zu begreifen, was wir bereits im ersten Augenblick verstanden haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ist ein Kompromiss in der Debatte um die Migranten möglich? Nein, er ist gar nicht nötig. Manche meinen, jede der diskutierenden Parteien sollte etwas nachgeben, sie sollten sich die Hände reichen und es sollte zu einem Handschlag kommen. Das ist eine falsche Annäherung. Es gibt Fragen, in denen es niemals eine Übereinstimmung geben wird. Es wird sie nicht geben und es ist auch nicht notwendig, dass es sie gibt. Solch eine ist zum Beispiel die der Einwanderung. Wir kennen kein einziges Dokument, in dem stünde: „Wenn Du der Europäischen Union beitrittst, musst Du zu einem Einwanderungsland werden.“ Als wir beitraten, haben wir uns zu nichts dergleichen verpflichtet. Wahr ist aber auch, dass die grundlegenden Dokumente der Europäischen Union auch nicht formulieren, dass wenn sich jemand zu einem Einwanderungsland umformen möchte, dies verboten wäre. Deshalb gibt es in der EU Einwanderungsländer, in denen man die Migranten mit Freude begrüßt, sich mit ihnen vermischen will, sie in sich integrieren möchte. Und es gibt Länder, die keinen Bedarf an Migranten haben, sich nicht mit ihnen vermischen wollen, ergo kann auch ihre Integration nicht in Frage kommen. In solchen Fällen ist nicht ein Kompromiss, sondern Toleranz notwendig. Wir tolerieren, dass einzelne Mitgliedsstaaten in der Schengenzone Migranten aufnehmen, dies hat Konsequenzen auch für uns bzw. wird sie haben, und sie tolerieren, dass wir so etwas nicht tun. Sie sollen uns nicht belehren, sie sollen uns nicht erpressen und sie sollen uns nicht nötigen, sondern sowohl uns als auch den Mitgliedsstaaten den ihnen zustehenden Respekt geben, und dann wird Friede auf dem Ölberg herrschen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Auf ähnliche Weise ist über die Frage der Einwanderung hinaus auch in einigen anderen Fragen kein Kompromiss, keine Vereinbarung, sondern Toleranz und Respekt notwendig: auch hinsichtlich der Auffassung über die Nation, über die Grundprinzipien der Familienpolitik, auf dem Gebiet der Regelung der Ehe und der gesellschaftlichen Integration. Diese Fragen gehören in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten und hinter der fehlenden Übereinstimmung finden sich kulturelle Eigenheiten und historische Wurzeln, weshalb es überflüssig ist, einander wieder und immer wieder erfolglos davon überzeugen zu wollen, worüber wir nicht gemeinsam entscheiden müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Hiernach möchte ich einige Worte zu den europäischen Fiaskos der vergangenen fünf Jahre sagen. Schon seit Langem gab es keine derart erfolglosen fünf Jahre für die Europäische Union, wie es die letzten waren. Drei schwerwiegende Fehler lasten auf dem Gewissen von Brüssel. Wir haben das Vereinigte Königreich verloren. Zweitens: Wir konnten unseren Erdteil nicht vor den Migranten schützen. Und drittens: Brüssel hat das Ost-West-Gleichgewicht aufgelöst. Die Verantwortung der gegenwärtigen europäischen Führung ist sonnenklar. Mit der Wahl von Jean-Claude Juncker, gegen die die Briten bis zuletzt und entschlossen auftraten, haben wir in Wirklichkeit Dynamit unter die Beziehungen zwischen den Briten und der Europäischen Union angebracht. Den Widerspruch der Briten haben außer Ungarn alle negiert. Wir haben keinen Grund, davon überrascht zu sein, dass die Zündschnur durch den Funken der Migration Feuer gefangen hat und das Dynamit explodiert ist.
Natürlich gehört zur Wahrheit auch, dass es in den vergangenen fünf Jahren auch Ergebnisse gegeben hat, auch wenn sie in ihrem Gewicht hinter unseren Fiaskos zurückbleiben. Junckers Programm zur Ankurbelung der Wirtschaft bedeutete zum Beispiel tatsächlich für einige Mitgliedsstaaten eine Hilfe. Es stellt ebenso eine Leistung dar, dass Brüssel auch in der Zeit der Fiaskos in der Lage war, die Funktionstüchtigkeit der EU aufrechtzuerhalten. Wahr ist auch, dass wir über eine ambitionierte digitale Strategie verfügen, und wir haben auch wichtige Schritte in Richtung auf die gemeinsame Verteidigung unternommen. In Friedenszeiten könnte diese Leistung sogar laut gefeiert werden. Nur waren die vergangenen Jahre keine Friedensjahre, weil wir die Briten verloren, uns nicht vor der Invasion der Migranten geschützt haben und weil Brüssel einen Konflikt zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil der EU eröffnet hat, und jetzt möchte ich hierüber einige Sätze sagen.
Ein jeder kann sehen, dass es eine Bruchlinie zwischen Ost und West gibt. Das Preisen von Fidel Castro durch die Kommission, das heißt seitens unseres gemeinsamen Präsidenten verursachte einen peinlichen Moment. Wir haben das geschluckt. Aber das Feiern von Marx, nun, das ist uns schon im Hals steckengeblieben und hat unsere Sicherungen durchbrennen lassen, denn dies ist für uns unfassbar. Marx hatte die Liquidierung des Privateigentums verkündet, hat die Auslöschung der Nationen verkündet, hat die Auflösung des traditionellen, tausendjährigen Familienmodells verkündet, hat die Abschaffung der Kirche und des Glaubens verkündet, und hat schließlich den modernen Antisemitismus geschaffen, als er als die Quintessenz des zu liquidierenden Kapitalismus den Juden als solchen markiert hat. Was gibt es daran zu feiern? Wer hat den Verstand verloren? Denn jemand hat ihn verloren, das ist sicher, entweder sie oder wir. Aber auch diese geistige Bruchlinie zwischen Ost und West hätten wir irgendwie überbrückt. Was sich aber als unüberbrückbar erwiesen hat, ist, dass die Kommission in jenen praktischen Diskussionen, in denen es um die Wettbewerbsfähigkeit geht, ausschließlich die Interessen der westlichen Länder vertritt. Wir müssen mitansehen, dass wenn die Westler über irgendeinen natürlichen, relativen Wettbewerbsvorteil verfügen, wie zum Beispiel hinsichtlich des freien Strömens von Geld und Kapital, dann verteidigt dies Brüssel im Namen des Marktes bis zum Äußersten. Ich bin der Ansicht, dass das auch richtig ist. In den Bereichen aber, in denen die Ostler über eine relativ bessere Wettbewerbsposition verfügen, wie zum Beispiel im Fall der Arbeitskräfte und der Dienstleistungen, dort schreien sie gleich „Dumping“ und zwingen uns Korrektionsmaßnahmen auf – und der Markt wird plötzlich nur noch sekundär. Dies kostet uns viel und ist überhaupt nicht fair.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Auch Helmut Kohl war Vorsitzender seiner eigenen Partei, deshalb darf man in einer aus dem Apropos seines Andenkens gehaltenen Rede auch über die Beziehungen der ungarischen Regierungsparteien zu der Europäischen Volkspartei sprechen. Entgegen der durch die führenden Politiker der Europäischen Volkspartei zu unserem Nachteil begangenen Fehler haben wir beschlossen, an der Seite der europäischen Parteienfamilie auszuhalten. Es wäre jetzt im Hinblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 ein Leichtes, eine, sagen wir, neue Formation aus den ähnlich eingestellten Parteien der mitteleuropäischen Länder zu erschaffen oder gerade eine gegen die Einwanderung auftretende gesamteuropäische Formation. Zweifellos würden wir bei den europäischen Wahlen 2019 ein großes Stück vom Kuchen abbekommen. Aber ich empfehle, dieser Verlockung zu widerstehen, und an der Seite der Ideale Helmut Kohls und seiner Parteienfamilie auszuharren. Statt des Desertierens sollten wir die schwierigere Aufgabe auf uns nehmen, die Europäische Volkspartei erneuern und ihr dabei helfen, zu ihren christdemokratischen Wurzeln zurückzufinden. Die Europäische Volkspartei ist die erfolgreichste Partei in der Geschichte der europäischen Gemeinschaft. Der Fidesz–Ungarische Bürgerbund hat sich zu Beginn der 2000er Jahre auf Einladung von Helmut Kohl dieser großartigen Gemeinschaft angeschlossen und ist im Laufe von zwei Jahrzehnten zu einem ihrer stärksten und erfolgreichsten Parteien geworden. Die Europäische Volkspartei konnte auf die Weise ihre herausragenden europäischen Erfolge erreichen, dass sie von Anfang an immer die Partei der Sieger war. Unsere Erfolge in der EU haben wir nicht in Brüssel, sondern durch unsere im nationalen Rahmen erreichten Ergebnisse begründet. Die Volkspartei hat jene Aufgabe sowohl zu Hause als auch in der EU erfüllt, die die grundlegende Aufgabe einer Partei, ja jeder Partei ist: Sie vertrat den Willen des Volkes in den die Entscheidungen fällenden politischen Institutionen, weshalb sie das Recht für sich beanspruchen konnte, auf sicherer Grundlage die Entwicklungsrichtung der europäischen Integration festzulegen. Die Menschen haben uns aus dem Grunde über Jahrzehnte hinweg bei Weitem in höchster Zahl unterstützt, weil wir – im Gegensatz zu unseren von Ideologien berauschten, zu Gefangenen von an Schreibtischen konstruierter, lebensfremder Doktrinen gewordenen, erstarrten linken und liberalen politischen Rivalen – wir immer mit beiden Beinen auf der Erde standen, die Menschen verstanden, unsere Länder kannten und immer darauf achteten, was die Bürger Europas wollen. Wir haben sie tatsächlich vertreten.
Die Europäische Volkspartei hat, obwohl sie auch heute noch die größte Partei des Kontinents ist, in den vergangenen fünfzehn Jahren langsam, aber kontinuierlich an Kraft und Einfluss verloren. Am wichtigsten ist und das wird auch durch zahlreiche Wahlen in den vergangenen Jahren bestätigt, dass der Einfluss unserer Parteien im Kreis unserer Wähler Schritt für Schritt abnimmt. Die Führung der Volkspartei hat auf diese Situation eine schlechte Antwort gegeben. Sie hat eine antipopulistische Volksfront geschaffen. Deutschland ist hierfür ein gutes Beispiel, aber das Europäische Parlament ist es ebenso. Diese antipopulistische Volksfront will alle traditionellen Kräfte angefangen von den Kommunisten über die Grünen, die Sozialdemokraten und die Liberalen ganz bis zu den Christdemokraten gegenüber den aufstrebenden neuen Parteien vereinigen. Das ist unserer Ansicht nach falsch. Falsch, denn es wirft der rapide ihre Lebenskraft verlierenden politischen Linke einen Rettungsring zu. Andererseits ist es falsch wegen seiner bipolaren politischen Dynamik: Anstatt sie zu schwächen stärkt sie als die einzige Alternative der sich an der Macht befindenden Elite gerade jene Kräfte, die wir zu besiegen wünschen.
Während die Führung der Europäischen Volkspartei eine falsche Antwort gegeben hat, sind in der Zwischenzeit auch erfolgreiche nationale Modelle entstanden. Das andere Modell ist eine in Österreich und Ungarn mit Erfolg erprobte Richtung, diese nimmt den Handschuh auf, erschafft keine derartige Volksfront, nimmt die durch die neuen Parteien aufgeworfenen Fragen ernst und gibt auf diese verantwortungsvolle Antworten. Dies macht sie auf die Weise, indem sie sich nicht mit der uns in eine schlechte politische Richtung lenken und uns ausnutzen wollenden politischen Linke verbrüdert.
Die Abnahme unserer Kräfte ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, nur aus dem Grunde nicht spektakulärer, weil unsere traditionellen Konkurrenten in einer die unsere übersteigenden Geschwindigkeit kleiner werden, was natürlich nur einen schwachen Trost darstellt. Unsere linken und liberalen Gegner wollen uns geistige Fesseln anlegen, sie wollen uns von Links nach Rechts vorschreiben, was wir tun, was wir denken sollen, sie wollen uns diktieren, worüber wir sprechen dürfen und worüber nicht, mit wem wir ein Bündnis schließen dürfen und mit wem nicht. Neuerdings wollen sie uns auch schon von Links nach Rechts vorschreiben, wer der Europäischen Volkspartei angehören darf und wer nicht. Das ist doch absurd. Für uns, die Länder, die den Kommunismus erlebt haben, lässt dies schlechte Erinnerungen aufleben. Dies erinnert gespenstisch daran, wie zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts die durch die Sowjetunion und durch globale geopolitische Pakte aus dem Hintergrund unterstützten Kommunisten mit der gleichen Methode, schrittweise die bürgerlichen Parteien in ganz Mitteleuropa aufrieben.
Zweifellos sind wir heute die CSU der Europäischen Volkspartei, wir stellen die rechte, christdemokratische Plattform der Europäischen Volkspartei dar. Nach unserem Eindruck ist statt der antipopulistischen Volksfront die Zeit der christdemokratischen Renaissance gekommen. Die christliche Politik ist im Gegensatz zur liberalen Politik in der Lage, die Menschen, unsere Nationen, die Familien, unsere über christliche Wurzeln verfügende Kultur, die Gleichheit von Frau und Mann, also unsere europäische Lebensweise zu verteidigen.
Meine Damen und Herren!
Nach den Parteiangelegenheiten lassen Sie mich einig Worte zur Zukunft der EU sagen. Die Europäische Union ist noch reich, ist aber schon schwach. Durch den Brexit wird sie noch schwächer und die äußeren Mitbewerber werden stärker. Wir können kein anderes Ziel haben als eine starke Europäische Union, aber die starke EU erfordert starke Mitgliedsstaaten. Die individuelle Verantwortung kann man in der Wirtschaft auch weiterhin nicht pulverisieren, man kann sie nicht in einer magischen Vergemeinschaftung auflösen. Das ist die Voraussetzung für ein starkes Europa. Zuerst muss ein jeder in seinem Zuhause für Ordnung sorgen, denn nur ein starker Mitgliedsstaat kann einem anderen zu Hilfe eilen, wenn dieser unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist. Ich möchte einen jeden daran erinnern, dass wir als erste unter den finanziellen Schutzschirm kamen und als erste, noch 2013, die finanzielle Hilfe bis auf den letzten Cent zurückgezahlt haben. Wir glauben an die Konzeption von Herrn Schäuble, nach der man auch unter der Einhaltung der Budgetdisziplin tiefgreifende strukturelle Reformen durchführen kann. Wir wissen daher, dass dies möglich ist, weil wir dies versucht haben und es uns gelungen ist.
Die Zukunft der Europäischen Union hängt davon ab, ob sie in der Lage sein wird, ihre Außengrenzen zu schützen. Dies ist die nächste Frage der Zukunft der EU. Wenn wir unsere Grenzen verteidigen, dann verliert die Debatte über die Verteilung der Migranten ihren Sinn, denn jene können nicht hereinkommen. Wenn sie nicht hereinkommen können, gibt es niemanden zu verteilen. Dies ist ein Gedanke, den man mit nüchternem Geist einsehen kann. Und wenn wir so vorgehen, dann bleibt nur noch die Frage, was mit jenen geschehen soll, die bisher hereingekommen sind. Unsere Antwort hierauf lautet, dass man jene nicht verteilen, sondern nach Hause bringen muss.
Und schließlich gehört zu den großen Themen der Zukunft Europas die Frage der Verteidigung, in der man Klartext sprechen sollte. Wer sich nicht aus eigener Kraft verteidigen kann, der wird immer ausgeliefert sein, auch in Friedenszeiten, nur nicht auf spektakuläre Weise. Das heißt Europa benötigt eine, würde eine eigene Verteidigungskraft benötigen, mit der es in der Lage wäre, sich selbst zu verteidigen. Die gute Nachricht ist, dass wir – wenn auch langsam, vielleicht auch langsamer als nötig, aber – in diese Richtung zu schreiten begonnen haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die größte Schwäche der Europäischen Union ist das Fehlen des inneren Vertrauens. Jetzt möchte ich hierzu einige Worte sagen. Die Kommission hat einen kapitalen Fehler begangen, als sie ankündigte, sie würde ab jetzt anstelle ihrer alten, neutralen Rolle eine politische Kommission sein. Schon allein der Name ist Unheil verkündend. Und wir haben einen kapitalen Fehler begangen, als wir dies nicht zu Sprache gebracht, sondern toleriert haben. Die Situation ist die, dass die Kommission heute das Instrument der großen Staaten gegen die kleineren ist. Was anderes könnte es denn auch sein, wenn es eine politische Körperschaft ist? Dann müssen sich die politischen Realitäten in ihr widerspiegeln. Deshalb verteidigt uns die Kommission nicht nur gegenüber der Übermacht nicht, sondern sie selbst umgeht im Interesse der Großen die Rechtsvorschriften, schreitet in der schleichenden, also ungesetzlichen Modifizierung der Befugnisse voran und nutzt die Mittel der Kommission zur Erpressung. Es gibt zwar ein kleines Zeitdimensionsproblem dabei, aber ich würde sagen, sie „moskauifiziert“ sich. Dem muss 2019 ein Ende bereitet werden. Diese Kommission muss gehen, und wir werden eine die europäischen Realitäten widerspiegelnde Kommission und ein ebensolches Parlament benötigen.
Und so sind wir bei der Frage des jetzt zur Debatte vorgelegten neuen europäischen Haushaltes angekommen. Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Haushalt ist genau so wie die Europäische Kommission: Er steht auf der Seite der Einwanderung und der Migranten. Das Wesen – oder wenn Sie so wollen: das Neue – des Haushaltsentwurfes ist, dass er das Geld den europäischen Menschen wegnimmt und es den Migranten und den NROs gibt. Es ist so, als hätte ihn George Soros geschrieben. Das ist auch möglich. Die Italiener haben endlich das ausgesprochen, was wir alle wissen, dass die NROs in Wirklichkeit White-Collar-Menschenschmuggler sind. Und der Haushalt der Kommission will sie finanzieren, also die Koalition der Blue-Collar- und der White-Collar-Menschenschmuggler unterstützen. Das haben die Italiener ausgesprochen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn das auslösende Moment der körperlichen Schwächung geistiger Natur ist, wie es die Situation im Fall der EU ist, dann muss man die Heilung nicht mit dem Körper, sondern mit dem Geist beginnen. Die Europäische Union hat meiner Überzeugung nach aus dem Grunde ihre frühere beispielhafte Fähigkeit zur Lösung von Problemen verloren, weil sie ihre eigene Vergangenheit und ihre mehrere Jahrzehnte umfassende Regierungserfahrung aufgegeben hat. Sie wurde von Amnesie befallen. Das haben wir aus den Schriften von József Szájer gelernt. Laut der heutigen offiziellen Ideologie der EU begannen in Europa der Friede, der Fortschritt und die Zusammenarbeit mit der Erschaffung der europäischen Gemeinschaft. Was vorher existierte, das war ein kleinliches, partikulares, nationalstaatliches, religiöses Rivalisieren, das durch die Affekte des Nationalismus und der Sektiererei genährt wurde und zu blutigen Kriegen, ja letztendlich zum Holocaust selbst geführt hat. Deshalb – so setzt sich die Brüsseler Logik fort – kann man hieraus nicht nur keine Praxis, keine Wegweisung, kein Beispiel schöpfen, sondern wenn du das machst, dann richtet sich dies geradezu gegen die neutralen Grundwerte des neuen Europa, ist diskriminierend, schädlich, geradezu eine verbrecherische Sache. Hiermit hat sich Europa eine geistige Zwangsjacke angezogen, und die Regierungserfahrung von mehreren hundert, ja mehreren tausend Jahren verworfen. Von dieser geistigen Zwangsjacke muss man sich als erstes befreien, denn sie verursacht nicht nur geistige Sorgen, sondern auch praktische politische Probleme. Ebenfalls bei József Szájer habe ich irgendwo gelesen, wer seine Vergangenheit loslässt, sie wegwirft oder zulässt, dass man sie ihm wegnimmt, soll sich nicht wundern, wenn er seinen Kompass auch bei der Lösung der neu vor ihn tretenden Probleme verliert. So konnte es geschehen, dass in der nahen Vergangenheit Staatsmänner, die man für seriös gehalten hatte, mit einem derartig minimalen historischen Wissen und leicht widerlegbaren Argumenten sich zu Worte meldeten, dass, sagen wir, man die Meeresgrenzen nicht verteidigen könne. Das, was sie über Grenzen, Mauern, Zäune in den vergangenen Jahren zusammengetragen haben, wird durch die mehrere tausend Jahre umfassende Erfahrung der Menschheit widerlegt widerlegt. Die Grenzen gehören zu den grundlegenden Dingen des Lebens, ohne Grenzen ist keine Existenz möglich. Was keine Grenzen, keine Konturen besitzt, das existiert auch gar nicht. Und wenn man die Meeresgrenzen nicht verteidigen können sollte, wie könnten dann die Länder an den Meeren existieren? Offensichtlich fehlte es nicht an der Möglichkeit, sondern am Willen, was gerade durch die letzten Taten der italienischen Regierung bestätigt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn wir über die Möglichkeit der Renaissance der Christdemokraten, der Christdemokratie sprechen, dann ist für mich der Gedanke bestimmend, den einst die Deutschen um 1945 in einer Rundfunkbotschaft aus Amerika erhielten und die folgendermaßen lautet. „Das Christentum ist der Hintergrund, vor dem jeder unserer Gedanken einen Sinn gewinnt. Es muss nicht jeder Europäer an die Richtigkeit der christlichen Religion glauben, doch ganz gleich was er sagt, herstellt, tut, das alles erhält seine Bedeutung aus dem christlichen Erbe.”
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die liberale Ordnung stürzt nicht deshalb in sich zusammen, weil es sich herausgestellt hat, dass sie ihre Ideale nicht auf das Leben, nicht auf die Wirklichkeit, nicht auf die Geschichte aufbaut, sondern auf artifizielle Konstruktionen, in denen für – ihrer Ansicht nach irrationale Formationen wie – die Europa, das Leben der europäischen Menschen seit zwei tausend Jahren formenden und bestimmenden Begriffe von Glaube, Nation, Gemeinschaft, Familie einfach kein Platz ist.
Und abschließend muss ich noch einige Worte zu den Föderationsbestrebungen sagen, deren neuestes Pseudonym „Rechtstaatmechanismus“ ist. Die Europäische Kommission, aber wir können hierher auch ruhig das Europäische Parlament zählen, ist ständig mit dem eigenen Spielraum unzufrieden, und möchte sich ständig auf immer neuere Gebiete ausdehnen. Das Schulbeispiel dafür ist der sogenannte „Rechtstaatsmechanismus“, dessen tiefgründige Analyse man ebenfalls von József Szájer erhalten kann, in der er darlegt, dass es für diesen kaum eine juristische Grundlage gibt, zumindest nicht in den Verträgen, mit denen die EU erschaffen worden ist. Das Wesen des Tricks ist ganz einfach, dass unter Berufung darauf, dass die einzelnen nationalen Behörden, die Gesetze anwendenden Organe zu einem bestimmten Prozentsatz auch EU-Recht anwenden, die EU dabei ein Mitspracherecht fordert, wie die einzelnen nationalen Rechtssysteme funktionieren, welche Kontrollmechanismen sie haben, wie die einzelnen Mitgliedsstaaten ihre eigene Rechtsanwendung organisieren sollen. Deshalb sagen wir, dass der Rechtstaatsmechanismus nur ein Tarnname jener föderalistischen Bestrebung ist, Druck auf die widerstrebenden Regierungen ausüben zu wollen.
Zum Abschluss muss ich vielleicht noch die Frage beantworten, was Ungarn für die gemeinsame europäische Politik anbieten kann? Mit der notwendigen Bescheidenheit können wir folgende Liste aufstellen. Zunächst einmal können wir auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Reformen ein gutes Beispiel zeigen. Dann können wir beim Heimtransport der Migranten Hilfe leisten, wenn es notwendig ist; wir sagen schon seit Langem: Wir sollten die Hilfe exportieren und nicht die Probleme importieren. Und dann können wir gute Ratschläge geben, wenn es jemanden gibt, der um sie bittet. Einen Ratschlag geben wir auch ungefragt, denn wir verfügen über ungarische historische Erfahrung. Ich empfehle einem jeden, dass er vorsichtig mit dem Gedanken umgehen soll, der Islam würde zu irgendeinem europäischen Land gehören. Man sollte die Antwort des Islam kennen. Wir, Ungarn, kennen sie. Wenn zum Beispiel der Islam zu Deutschland gehört, dann bedeutet dies muslimisch, dass Deutschland ein Teil des Islams ist. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Bei allen Beispielen, bei aller Hilfe und allen Ratschlägen müssen wir auch das sanft, aber deutlich aussprechen, dass wir auch in der Zukunft nicht nachgeben und erlauben dürfen, dass man uns zu Dingen zwingt, die wir nicht wollen. Und wenn wir im Laufe von Unterredungen kein ausreichendes Ergebnis erreichen können, wenn wir jetzt die gegenseitigen Standpunkte in der Frage der Migration und des Haushaltes nicht akzeptieren oder zumindest tolerieren können, dann sollten wir warten. Warten wir es ab, dass die europäischen Menschen ihren Willen bei den Wahlen 2019 äußern. Und danach komme, was kommen muss.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
(Kabinettbüro des Ministerpräsidenten)