25. November 2018, Brüssel
Eszter Baraczka: Herr Ministerpräsident, mehrere führende Politiker der EU beziehungsweise der Mitgliedsstaaten haben heute sich dahingehend geäußert, dass dies ein trauriger Tag sei. Auch Sie haben eine ähnliche Botschaft veröffentlicht. Wir haben kaum Grund zur Freude, denn das Vereinigte Königreich, eines der stärksten, reichsten, einflussreichsten Länder der Europäischen Union verlässt die Gemeinschaft. Wie war die Stimmung während der Beratung?
Wir sprechen sogar von einer Atommacht, einem hinsichtlich der europäischen Sicherheit grundlegenden Land. Doch findet sich tatsächlich darin, was meine Kollegen gesagt haben, keinerlei Übertreibung, dass dies ein trauriger Sonntag sei. Wenn es den Black Friday gibt, dann ist dies ein Black Sunday. Wir haben dies hier schön geordnet, es stehen also gut ausgedachte, kluge Dokumente zur Verfügung, was im geistigen, im intellektuellen Sinne zu vollbringen war, haben wir vollbracht, doch so gut man auch eine Scheidung organisiert, sie bleibt auch dann noch eine Scheidung. Dies hat der Stimmung schon ihren Stempel aufgedrückt. Wir hatten es versucht, das ist vielleicht eine wichtige Information, dass wir, Ungarn, den Versuch unternommen hatten, wir waren vielleicht die einzigen, die auch bis zu einem gewissen Maß in die britische Kampagne eingegriffen haben, und sie davon zu überzeugen versucht haben, sie sollen lieber bleiben, aber es gelang uns nicht, dies zu erreichen. Jetzt haben wir keine andere Möglichkeit mehr, als die Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen, die gefallen ist. Der Verlust ist groß. Die Briten sind ein reiches Land, sie nehmen jetzt viel Geld mit sich, denn der Austritt bedeutet ja, dass sie das Geld wegbringen. Das heißt, dass für uns weniger bleibt, so auch für uns, Ungarn, bleibt weniger. Man kann also den Verlust, den wir erlitten haben, auch in Geld messen – über den politischen und den Sicherheitsverlust. Die Vereinbarung, die wir unter Dach und Fach gebracht haben, macht den Austritt der Briten juristisch endgültig. Sie haben damit noch zu Hause im britischen Parlament Arbeit, die – wenn ich das richtig sehe – auch gar nicht so leicht wird, wie wir uns das vielleicht auf Grund der ungarischen parlamentarischen Traditionen vorstellen würden, doch haben wir unsererseits, also von Seiten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Angelegenheit beendet, die Verhandlungen abgeschlossen, wenn sie sie wollen, dann sollen sie sie nehmen, neu verhandeln werden wir sie nicht, das haben wir jetzt auch alle bekräftigt.
Die führenden Politiker der Europäischen Union sind jetzt alle mit der Haltung hierher gekommen, dass aus dem Blickwinkel der EU 27 dies die beste aller möglichen Vereinbarungen sei, die Briten haben sie eher als schrecklich bezeichnet. Aus ungarischer Perspektive haben wir, so scheint es, die wichtigsten Ziele erreicht.
Wir sollten aber wiederholen, dass ein reiches Land ausscheidet, und wenn ein reiches Land weggeht, dann bedeutet dies finanziellen Verlust. Ungarn – ich sage es noch einmal – hat über den historischen, militärpolitischen Verlust, den Verlust zivilisatorischer Natur mit dieser Entscheidung jetzt auch Geld verloren. Wenn die Briten geblieben wären, dann wäre auch in den nächsten Jahren auf Ungarn mehr Geld aus dem Haushalt der Europäischen Union entfallen. Die zweite Sache – in die Angelegenheit der Briten mischen wir uns nicht ein, sie werden darüber eine Entscheidung fällen, und ob dies vom britischen Gesichtspunkt aus für sie gut ist oder nicht, das können wir auch ruhig in Klammern setzen –, unser anderes wichtiges Interesse war es, die Gesichtspunkte jener Ungarn möglichst weitgehend zu verteidigen, die in Großbritannien arbeiten. Dieses unser Ziel hat sich erfüllt. Als Erfolg können wir – wenn man an einem schwarzen Sonntag überhaupt von Erfolg reden kann – anführen, dass jene Familien, jene Ungarn, die heute in England arbeiten, in Sicherheit sind, ihre Situation hat sich nicht verschlechtert.
Ich weiß übrigens, dass Sie nicht gerne über die inneren Angelegenheiten anderer Länder sprechen, gerade eben haben Sie ja auch gesagt, die Sache der Briten sei die Sache der Briten, aber gab es doch darüber hier eine Art Diskurs, jetzt hier oder auch schon früher, wie groß jetzt die Gefahr eines ungeordneten Brexit, also eines Austritts ohne Verhandlungen ist?
Wir gehen jetzt vorerst von dem optimistischen Drehbuch aus, die britische Regierung ist zu uns gekommen, wir haben über einen langen Zeitraum hinweg mit ihr verhandelt, und wir haben eine Vereinbarung erreicht. Wir gehen jetzt davon aus, von dem optimistischen Drehbuch, dass die Briten ihr Wort werden halten können, und das, worin wir jetzt hier übereingestimmt hatten, denn auch Theresa May war jetzt hier, das werden sie zu Hause auch in eine endgültige Form bringen, weiter wagen wir uns nicht voraus.
Ich kann mehrere Persönlichkeiten zitieren, zum Beispiel den Ratspräsidenten Donald Tusk, dass im Laufe der Verhandlungen niemand den anderen besiegen wollte, dann kam eine Botschaft an die Öffentlichkeit, nach der Freunde Freunde bleiben, doch war es im Laufe der vergangenen 17 Monate – oder vielleicht war es auch ein längerer Zeitraum – ziemlich offensichtlich, dass es auf der Ebene der politischen Erklärungen hier führende Politiker aus den EU 27 Staaten gab, die anscheinend das Vereinigte Königreich hätten bestrafen wollen, weil es austritt. Doch wissen wir auch, dass dies gar nicht so sehr an die Briten gerichtet war, sondern vielmehr an jene, in der EU verbleibende Länder, die sich eventuell ähnliche Gedanken machen. Kann jene Einheit bewahrt werden, die im Augenblick vorhanden ist – denn im Laufe der Verhandlungen war dies gut zu sehen?
Es hört sich natürlich gut an, dass niemand den anderen besiegen will, doch warum verhandeln wir dann? Wir verhandeln, weil jeder seine eigenen Interessen auf möglichst vollständige Weise durchsetzen möchte. Es lohnt sich nicht, dies in einen Zusammenhang von Sieg und Niederlage zu stellen, doch zweifellos tobt auf jeder Verhandlung eine Schlacht, denn ein jeder hat seine eigenen Interessen, und die möchte er im Kompromiss auf möglichst umfassende Weise zur Geltung bringen. Es wurden also schwerwiegende Verhandlungen geführt, und man musste auch über schwerwiegende Fragen übereinkommen: die Zukunft der Handelsrechte, der Investitionen, der Finanzdienstleistungen. Hier ging es also bei den Verhandlungen täglich um viele-viele Euromilliarden, und hier ist nicht der Sieg und die Niederlage die Frage, sondern wer hierbei besser und wer schlechter wegkommt, beziehungsweise ob es Lösungen gibt, durch die wir beide Vorteile haben. In solchen Fällen gibt es dies – übrigens – kaum. Hier musste jeder ernsthafte Konzessionen machen. Ob die Briten dabei gut wegkommen? Ich habe keine Angst um die Briten, wir sprechen über eine Atommacht, wir sprechen über die zweitgrößte Wirtschaft der EU, wir sprechen über die fünft-sechstgrößte Wirtschaft der Welt, wir sprechen über eine Insel, die militärisch leichter zu verteidigen ist als jedwedes kontinentale Land. Die Briten werden, mit einer großen demokratischen Tradition von vielen hundert Jahren hinter sich, sie werden mit diesen Grundvoraussetzungen ihren eigenen Platz unter der Sonne finden, selbst noch unter der europäischen Sonne. Ich muss mich nicht wegen der Briten, sondern wegen der Ungarn sorgen, und ich muss hier die Interessen der Ungarn vertreten, was ich – ich sage es noch einmal – hinsichtlich des Arbeitens auf der Insel auch mit Erfolg vollbracht habe. Hinsichtlich des Geldes hat uns das Ausscheiden von Vornherein zu einem Verlust verurteilt, daran konnten wir nichts mildern.
Als letzte Frage würde mich interessieren, was Ihr Eindruck ist, wie sehr wird der Brexit ein Thema des Wahlkampfes vor den europäischen Wahlen werden?
Es wird insofern ein Thema sein, als dass wir über eine der wichtigsten Fragen des ausgehenden, jetzt ablaufenden fünfjährigen Mandats sprechen, und da stellt sich die Frage der führenden europäischen Politiker. Wer ist schuld am Brexit? Sind die derzeitigen führenden Politiker der Europäischen Union daran unschuldig? Die Antwort lautet „nein”, meiner Ansicht nach. Die Verantwortung lastet auf den führenden Politikern der Europäischen Union, weil der Brexit eingetreten ist. Mehrere Fehler sind auch gemacht worden. Einer der wichtigsten war der, den die Ungarn im Übrigen meiner Ansicht nach sehr richtig erkannt hatten, dass wenn die Europäische Union einen Kommissionspräsidenten wählen wird, den die Briten offensichtlich und unter öffentlicher Ankündigung nicht wollen, sie aber dennoch mit diesem Präsidenten werden arbeiten müssen, dies die Briten von der Europäischen Union entfernen wird. Zur Entlastung der gegenwärtigen führenden Politiker sei gesagt, dass damals noch keine Rede von einer Volksabstimmung war, doch haben wir nicht zufällig bis zuletzt auf Seiten der Briten gegenüber dem gegenwärtigen Präsidenten ausgehalten und gesagt, gegenüber dem gegenwärtigen Präsidenten mag es positive oder negative Meinungen geben, das ist nicht das Entscheidende, sondern man kann es der zweitgrößten Wirtschaft Europas nicht antun, dass wenn sie jemanden ganz offen nicht in einer Position sehen will, wir dann doch diese Person in diese Position hineinzwängen. Hier geschah der erste Fehler. Der zweite Fehler war die Migration. Genau umgekehrt hätte es geschehen müssen: Jetzt geschieht, dass wir die Migranten hereingelassen haben, die Briten aber nicht drinnen behalten konnten. Es hätte umgekehrt sein müssen: Man hätte die Briten drinnen behalten müssen und man hätte die Migranten nicht hereinlassen dürfen, und wenn die westeuropäischen Länder die Migranten nicht hereingelassen hätten, dann hätten meiner Ansicht nach die Briten in der EU drin bleiben können. Doch das ist jetzt schon Vergangenheit, und so ist es Spekulation, wir sollten eher unseren Blick in die Zukunft richten.
Vielen Dank!
(miniszterelnok.hu)