Budapest, den 2. Juni 2015

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche Ihnen einen guten Tag!

 

Ich bedanke mich für die Einladung und gratuliere den Organisatoren für die Idee und Realisierung dieser Konferenz. Am heutigen Tag erweisen wir an diesem Ort einem großen Staatsmann unseren Respekt. Einem Mann, dem wir alle unseren Dank schulden. Es ist mir eine Ehre, dies im Kreise der anwesenden Referenten, einer so hervorragenden Gesellschaft, zum Ausdruck bringen zu dürfen. Ganz herzlich begrüße ich Herrn Kanzler Schüssel, bei dem mir, immer wenn wir uns treffen, in den Sinn kommt, wie reich ein Land sein muss, das sich den Luxus leisten kann, dass dieser europäische Staatsmann nicht aktiv in das innenpolitische öffentliche Leben involviert ist. Gleichzeitig begrüße ich auch herzlich den Herrn Präsidenten Vogel. An ihn denken wir stets mit großem Respekt, weil er bei uns in Ungarn als einer der großen Theoretiker der christdemokratischen Politik unseres Kontinents gilt. Und herzlich begrüßen wir auch den Herrn Präsidenten Constantinescu, der uns daran erinnert, in welche Höhen der Geist und die Politik gemeinsam hier in Mittel-Europa steigen können, wenn die Geschichte hierfür die Gelegenheit bietet. Vielen Dank dafür Herr Präsident, dass Sie gekommen sind! Wir sind hier heute natürlich zusammengekommen, um Helmut Kohl unseren Respekt zu bezeugen, aber eine solche Konferenz, bietet auch eine gute Gelegenheit dafür, uns mit der Frage auseinander zu setzen, ob wir überhaupt ein solches Europa haben wollten, in dem wir derzeit leben, und auch eine gute Gelegenheit dafür, einen Blick nach vorne in die Zukunft zu werfen, und uns selbst die Frage zu stellen: ist unsere Europäische Union bereit, auf die vor ihr stehenden Herausforderungen eine geeignete Antwort zu geben?

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Die Ungarn haben guten Grund Helmut Kohl Respekt zu zollen, da erst die deutsche Vereinigung den Weg für die Wiedervereinigung Europas geebnet hat, und die Mitgliedschaft Ungarns in der Europäischen Union ermöglicht hat. Deutschland ist ein großes Land und Ungarn ist ein kleines, und man nimmt mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass selbst die größten Länder die Vorsehung benötigen, etwa so, wie uns dies der Geist des Bismarck-Ausspruches eröffnet: „In der Geschichte der Nationen bedeutet die Vorsehung nichts anderes, als dass zum entscheidenden Zeitpunkt an der entscheidenden Stelle der richtige Mann an der Spitze eines Landes steht.” Und in den Stunden, die über das Schicksal Deutschlands der Jahre 1989-90 entschieden haben, stand Helmut Kohl an der Spitze der Bundesrepublik Deutschland, was für uns ein Beweis für die Existenz einer Vorsehung ist.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Erlauben Sie mir bitte, Ihnen an dieser Stelle eine persönliche Geschichte zu erzählen. Im Jahr 1998 wurden die ungarischen Parlamentswahlen zur Überraschung vieler – zu denen ich glücklicherweise nicht gehört habe – die ungarischen Parlamentswahlen von unserer politischen Gemeinschaft gewonnen. Ich bin damals gerade 35 Jahre alt geworden, und stand vor der Regierungsbildung. Da ich davor mit so etwas noch nie etwas zu tun hatte, denn meine Familie ist mit so etwas noch nie in Berührung gekommen, und die FIDESZ, als politische Gemeinschaft dem Land Ungarn zum ersten Mal eine Regierung geben konnte, habe ich mir darüber meinen Kopf zerbrochen, mit wem man in einer solchen Situation darüber sprechen könnte, und von wem man in dieser Lage einige gute Ratschläge erhalten könnte. Ich habe dann Helmut Kohl, den deutschen Kanzler angerufen, und ihn um ein Treffen gebeten. Ich habe ihm gesagt, dass ich keine Verhandlungen mit ihm führen möchte, sondern einfach nur kurz bei ihm vorbeischauen möchte, und je nachdem, wie viel Zeit er für mich erübrigen kann, mit ihm diesen Beruf ein bisschen gründlicher erörtern möchte. So ist es dann auch gekommen, und ich bin an einem Sommernachmittag in seinem Kanzleramt eingetroffen. Wir haben uns mehrere Stunden lang miteinander unterhalten, und ich habe ihn einfach nur danach gefragt, wie man so etwas gut machen kann, wobei ich alle möglichen Fragen eines Grünschnabels gestellt habe, wobei ich unter anderem auch das Dilemma angesprochen habe, das uns mitteleuropäische Intellektuelle, die Politiker geworden sind, am meistens beschäftigt, und zwar, wie wir zur Frage der Moral stehen sollten. Die Frage lautete also: Wie soll das Verhältnis zwischen politischer Moral und persönlich-privater Moral aussehen, wenn man im Rahmen der Machtausübung in der Politik schwierige Entscheidungen zu treffen hat. Wir haben über dieses Thema bereits an der Universität im Fach Staatswissenschaften und Staatsphilosophie einiges gelernt, unter anderem auch, dass diese beiden voneinander abgekoppelt werden können, was sogar nach Ansicht von einigen auch ganz gut so ist, wenn diese beiden voneinander getrennt sind. In diesem Augenblick hat mir Helmut Kohl in aller Freundschaft seine Hand auf meine Schulter gelegt, und mir gesagt, dass wir diesen Unsinn besser lassen sollten, die Situation sehe nämlich so aus, dass das, was im Privatleben richtig ist, auch in der Politik seine Richtigkeit hat. Ich denke, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass, wenn ich Ihnen im Großen und Ganzen veranschaulichen möchte, in welchem Geist und mit welcher Mentalität Helmut Kohl das Schicksal Deutschlands und Europas damals gelenkt hat, dann scheint mir diese Begebenheit als am geeignetsten dafür. Es gibt keine Doppelmoral, es gibt keine zwei Personen; eine Moral, einen Richterstuhl, eine Persönlichkeit und einen Lebensweg. Wir können keine Unterschiede machen, die Sachen nicht voneinander trennen und wir können auch keine unterschiedlichen Messlatten anlegen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

In letzter Zeit haben wir einer Anzahl von Ereignissen gedacht, die das Schicksal Europas bestimmt haben. Wir dachten an den hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des 1. Weltkrieges, des siebzigsten Jahrestages des Holocaust und des fünfundzwanzigsten Jahrestages des Zerfalls der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa. Es scheint ein kurzes 20. Jahrhundert gewesen zu sein, das vom 1. Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung Deutschlands gedauert hat, eine Zeitspanne von insgesamt siebzig und noch ein paar Jahren. Das heutige Europa ähnelt weder dem Europa vor dem 1. Weltkrieg, noch dem Europa zwischen den zwei Weltkriegen, aber auch nicht dem Europa des kalten Krieges. Diese gewaltigen Veränderungen sind in insgesamt 76 Jahren abgelaufen. Diese Zeitspanne entspricht etwa der Lebensdauer eines Menschen. Und in der Tat, wenn meine Generation über diese Ära spricht, sprechen wir über das Leben unserer Großeltern. Welch ein Leben, welch große Veränderungen!

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Wir sind hier heute zusammengekommen, um dem Kanzler, der die Generation unserer Großeltern repräsentiert, unseren Respekt zu erweisen. Wir möchten unseren Respekt und unsere Wertschätzung einem Mann zum Ausdruck bringen, der eine Rolle in der Geschichte des 20. Jahrhundert übernommen hat, die das Schicksal veränderte. Wir haben zweifelsohne vorhin gerne den netten Worten über die Rolle der Ungarn zugehört, und es steht außer Zweifel, dass es ein historischer Akt war, den ersten Stein aus der Berliner Mauer herauszuschlagen, aber dennoch haben den Großteil der Arbeit, das Wesentliche, den größten Teil der Arbeit diejenigen auf sich genommen und verwirklicht, die ihr Leben daran gesetzt haben, auch den letzten Stein aus dem Weg der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas wegzuräumen. Man sagt, dass es sich schickt, wenn man sich nur an das Schöne erinnert, aber dennoch würde ich vorschlagen, nur für die Dauer eines Moments – vielleicht auch die Begrenztheit des menschlichen Denkvermögens darin sehend –, rufen wir uns etwas in Erinnerung, was heute bereits unvorstellbar erscheint, aber dennoch sich so verhielt. In den letzten Tagen des kalten Krieges gab es in Europa, und sogar selbst in der Bundesrepublik Deutschland, einige, die von verschiedenen Überlegungen geleitet, beim Herausschlagen des ersten, oder eventuell dann beim zweiten oder dritten Stein aus der Mauer lieber Halt gemacht hätten.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Gegen den Widerstand dieser Personen hat es Helmut Kohl in außerordentlich scharfen Diskussionen und zum Preis von innenpolitischen Auseinandersetzungen – die wir uns heute kaum mehr in Erinnerung rufen können – geschafft, die Mauer, die die Völker Europas voneinander trennte, bis zum letzten Stein abzureißen.

 

Sehr geehrte Herren Präsidenten! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Ich kann mich noch gut an die Lektüre meiner Jugendzeit erinnern, in der zu lesen war, dass sich die am Ende der vierziger Jahre gegründete NATO drei Ziele gesteckt hatte: „keep the Russians out,” das heißt: halten wir die Russen draußen, „keep the Americans in,” das heißt: halten wir die Amerikaner in Europa, und „keep the Germans down,” das heißt, halten wir die Deutsche unten. So war das am Ende der vierziger Jahre. Bis zum Jahr 1989 hat sich in Europa aber eine Menge geändert. Die Bundesrepublik Deutschland wurde ein engagiertes Mitglied der NATO von zentraler Bedeutung, wobei in den Menschen damals unterschwellig immer noch die Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland gebrodelt hat, woran ich mich auch noch persönlich erinnere. Diese Angst musste die damalige deutsche Staatsführung – an ihrer Spitze Helmut Kohl – neutralisieren, und wie wir bereits gesehen haben, hat er dies mit einer politischen Linienführung getan, die in die Lehrbücher gehört. In Ungarn war so etwas natürlich nicht erforderlich. Ungarn gehört zu den Völkern, – ob deren Anzahl groß oder klein ist, mag hier und jetzt vielleicht irrelevant sein –, die die Deutschen nicht nur für ihre Leistungen respektiert, sondern sie auch von Herzen mögen. Deshalb war es hier in Ungarn nicht erforderlich Überzeugungsarbeit dazu zu leisten, dass die deutsche Wiedervereinigung keine Gefahren in sich birgt. Sogar ganz im Gegenteil: alle Ungarn haben sich über die Freude und das Glück der Deutschen mitgefreut, und die Klügeren unter uns haben sogar gleich verstanden, dass die deutsche Wiedervereinigung auch für Ungarn von immensestem nationalem Interesse ist. Die deutsche Wiedervereinigung gilt nämlich als die einzige und unwiderrufliche Garantie dafür, dass Ungarn nicht wieder besetzt wird, und dass der kalte Krieg nicht erneut ausbricht. Die deutsche Wiedervereinigung gilt als die einzige und unwiderrufliche Garantie dafür, dass eine neue Weltordnung entsteht, in der Ungarn endlich Teil der freien und unabhängigen Welt ist. Die Ungarn haben deshalb die deutsche Wiedervereinigung immer auch ein bisschen als Garantie ihrer eigenen Unabhängigkeit und Freiheit betrachtet.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Wenn wir über den Altkanzler Kohl sprechen, gibt es noch etwas, das wir ansprechen sollten, eine Eigenschaft, mit der der Kontinent derzeit nicht so reich gesegnet ist. Ich spreche über Mut. Nicht lediglich über den persönlichen Mut, sondern auch über den politischen Mut. Über den Mut auf dem Gebiet der Diplomatie war bereits im gezeigten Film die Rede. Aber hier gab es noch einige schwere Jahre, nämlich die Jahre, die erst darauf folgten. Auf die schwierige Frage, auf welche Weise eine Nation wieder zu vereinen ist, hat bis zum damaligen Zeitpunkt niemand eine Antwort gegeben. Man hätte die Sache auf vielerlei Arten und Weisen durchführen können. Und schließlich ist es so geschehen, wie es Helmut Kohl wollte, und das einzige Wort, mit dem ich seine Arbeit bewerten kann, ist: Mut. Im Jahr 1990 stand die Wirtschaft der DDR – welch wunderbar klingendes Wort dies in unseren Ohren ist, das unsere schöne Jugend wiederauferstehen lässt! – am Rande des Bankrotts, und Kanzler Kohl hat den Entschluss gefasst, eine vollständige Finanz-, Wirtschafts- und Sozialunion mit diesem Land einzugehen. Es erschien damals, zumindest von einer entfernteren Perspektive aus betrachtet, wirtschaftlich absolut unsinnig, die Löhne, die Einkommen, die Renten, die Stipendien und bestimmte Sozialleistungen eins zu eins zu übernehmen. Und Kanzler Kohl hatte dennoch den Mut, genau dies zu tun. Auf den ersten Blick erschien es wirtschaftlich ebenfalls nicht sinnvoll, die Sparguthaben in Bargeld von unter 14 Jährigen bis zu 2.000,- DDR-Mark, von Personen zwischen 15 bis 59 Jahren bis zu 4.000,- DDR-Mark und für Personen über 60 Jahre bis zu einem Betrag von 6.000,- DDR-Mark eins zu eins umzutauschen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass, je älter jemand war, einen umso höheren Betrag umtauschen konnte. Ich frage mich: Genießen die Älteren in der heutigen Welt noch den Respekt, der damals aus der Mathematik nach Kohl abgeleitet werden konnte? Gleichzeitig erschien es vielen ebenfalls nicht sinnvoll, dass durch die Union das westdeutsche Sozialsystem auch auf das Gebiet der DDR ausgedehnt wurde. Aber auch zu diesem Schritt hat Kanzler Kohl den Mut aufgebracht, und die Zeit hat – zwar nach riesigen Debatten – aber auch diesem Schritt Recht gegeben.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Lassen Sie uns auch darüber sprechen, dass die deutsche Wiedervereinigung und deren Vater, Kanzler Kohl die Möglichkeit zur Wiedervereinigung Europas und zur Erweiterungspolitik der Europäischen Union eröffnet hatte. Der stärkste Staat Europas, West-Deutschland ging eine finanzielle, politische und wirtschaftliche Union mit einem Land des ehemaligen sozialistischen Blocks ein, das sich damals wahrscheinlich in einer ausweglosen Lage befunden hat. Dieser Schritt war zugleich das einzige Medikament gegen eine Krankheit gewesen, die in den siebziger und achtziger Jahren Eurosklerose genannt wurde, womit der Pessimismus darüber gemeint war, dass wegen den riesigen wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden in Europa eine weitere Erweiterung der Europäischen Union unmöglich sei. Aber Helmut Kohl hat den Beweis erbracht, dass, wenn dies in Deutschland getan werden kann, das es dann auch im europäischen Maßstab möglich sein muss. Viele von denen, die bis dahin Skeptiker waren, konvertierten zum Gläubigen, womit sich auch der Integrationsprozess beschleunigt hat.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

In unseren Tagen, in denen die Europäische Union erneut mit einer schweren Krankheit kämpft, könnten wir uns an keinen besseren Arzt wenden, als an den, der Europa schon einmal geheilt hat. Aus diesem Grund habe ich im letzten Jahr mit großer Freude das Buch Helmut Kohls mit dem Titel „Aus Sorge um Europa” in die Hand genommen. Dieses Buch, ja dieses Werk gilt uns allen als Aufruf gemeinsam zu handeln. Es ist ein Aufruf, nicht darauf zu verzichten, dass der Frieden und die Freiheit essentiell für Europa sind, die auch gleichzeitig die Grundlage für alles weitere bilden: für die Demokratie, die Menschenrechte, dem Rechtsstaat, die gesellschaftliche Stabilität und dem Wohlstand sowie unsere Verantwortung, die wir für Europa und für die Welt tragen. Im gezeigten Film haben wir auch etwas über die historische Tat der Einführung des Euros erfahren. Heute gehört dieses Projekt zwar nicht zu den populärsten Projekten in Europa, aber wir schulden dem Altkanzler, auch über diese Frage offen zu sprechen. Der Moment der Einführung der gemeinsamen Währung hat die besten Tugenden der europäischen Geschichte und der europäischen Politik heraufbeschworen. Großer Mut, eine breitangelegte Zukunftsvision und starke Entschlossenheit. Es liegt auf jeden Fall etwas sehr erhabenes und grandioses darin, wenn Länder mit großer historischer Vergangenheit sich – unter Verzicht auf ihre eigene frühere Währung – dazu entschließen, eine neue Weltwährung ins Leben zu rufen, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für das gesamte moderne Weltfinanzsystem. Was jedoch seither geschehen ist, gehört nicht mehr zu dieser Erfolgsstory, da das Projekt – wie man dies in Brüssel zu sagen pflegt – ins Stocken geraten ist. Der Gedanke und die Hoffnung, dass, wenn man schon gemeinsam eine Währungsunion gründet, die Gesetze der Vernunft früher oder später auch eine Fiskalunion, eine gemeinsame Haushaltsführung und sogar eine gemeinsame Wirtschaftsregierung in den Gebieten erzwingen wird, wo die gemeinsame Währung bereits eingeführt wurde, hat sich letzten Endes nicht durchgesetzt.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Heutzutage herrscht eine verhaltene Zuversicht in Bezug auf die Zukunft der europäischen Wirtschaft. Das ist eine gute Nachricht, selbst wenn wir überhaupt keinen Grund dazu haben. Die Debatte, die auf unserem Kontinent für Spannung sorgt, kann wie folgt zusammengefasst werden: wie kann man in der Ära einer Wirtschaftskrise auf die Herausforderungen der Wirtschaftskrise die richtigen Antworten finden. Es ist gleichgültig, dass wir um den heißen Brei herum reden, und es ist gleichgültig, wie höflich wir es auch immer formulieren mögen, die Wahrheit ist einfach, dass es in Europa für die Bewältigung der Wirtschaftskrise gut erkennbar zwei unterschiedliche Kulturen gibt: eine nordische und eine südliche. Die nordische Kultur verhält sich äußerst rational. Wir sollten auch diskutieren, wohin wohl Österreich in dieser Zuordnung gehört, wobei es sich dabei allerdings nicht nur um eine relevante Frage der Österreicher, sondern auch die der Ungarn handelt. Die Sache sieht also so aus, dass die nordische Denkweise logisch vorgeht, analysiert und die Lage auswertet, dann Rückschlüsse zieht und daraufhin Reformen einführt. Wenn erforderlich, werden strukturelle Reformen umgesetzt, wobei diese Erkenntnisse vom Zentrum aus über die politische Regierungsarbeit gesteuert werden. Viele mögen der Ansicht sein, dass dies die einzige Reaktion, und zwar die einzig vernünftige Reaktion auf die Ära einer Wirtschaftskrise sein kann, und sind dann äußerst verwundert, dass, wenn sie etwas südlicher reisen, feststellen müssen, dass die Krisenbewältigung im Süden im Wesentlichen darin besteht, dass sich das Leben schlussendlich den Veränderungen anpasst. Die Politik hat dabei nur eine einzige Aufgabe, nämlich all diesem Raum zu schaffen. Dies bedeutet in der Sprache der Ökonomiewissenschaft, dass die Währung abzuwerten ist, damit dann vom Leben die Möglichkeit der wiederhergestellten Wettbewerbsfähigkeit, die durch die abgewertete Währung geschaffen wurde, automatisch genutzt werden kann. Kein Wort über Reformen, kein Wort über strukturelle Reformen, und falls doch – in Italien haben wir kürzlich so etwas erlebt –, dann lösen diese Reformen einen gewaltigen Widerstand aus. Falls wir die Tiefe der Reformen mit den Entscheidungen, die in Deutschland üblicherweise getroffen werden, oder die in Ungarn derzeit gerade getroffen werden, vergleichen, werden die Unterschiede in ihren Dimensionen gleich völlig sichtbar. Dabei handelt es sich nicht um solch tiefgreifende Reformen, wie die, die zurzeit Ungarn erneuern.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Heute haben wir, was die Eurozone anbelangt, lediglich deshalb Grund zum Optimismus, da anstelle der Logik der nordischen Krisenbewältigung in Wirklichkeit die Logik der südlichen Krisenbewältigung im europäischen Maßstab in den Vordergrund gerückt ist. Wir können heute deshalb verhalten optimistisch sein, da von der Europäischen Zentralbank der US-Dollar-Euro-Kurs bis auf einen Level von 1,1% abgesenkt wurde, und auf diesem Niveau selbst die südlichen europäischen Staaten bereits wieder wettbewerbsfähig sind. Dies ist aber eine klassisch südliche Logik der Krisenbewältigung. Daher ist es kein Zufall, dass die Debatte, die darüber geführt wird, innerhalb der Europäischen Union für Spannungen sorgt. In diesem Zusammenhang müssen wir die Anmerkung machen, dass diese monetäre Belebung ähnlich wie in der Agrarwirtschaft funktioniert. Man gießt völlig vergebens ein Menge Wasser auf den Boden, wenn dieser vorher nicht bearbeitet wurde. Auch wir gießen vergebens Geld in eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft, wenn wir diese vorher nicht reformiert und umgestaltet haben. Es gibt keine noch so große Geldmenge, die dieses großzügige Geldausgeben mit echter Wettbewerbsfähigkeit honorieren würde. Aus diesem Grund, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind die Diskussionen über die Zukunft der europäischen Wirtschaft und über die Zukunft Europas nach wie vor notwendig, und nach wie vor unvermeidbar. Ich möchte Sie vor der Illusion warnen, dass wir bereits davon ausgehen können, den Weg gefunden zu haben, über den die Eurozone im Vergleich zu anderen Weltwirtschaftsregionen der Welt, die uns bereits überholt haben, erneut wettbewerbsfähig gemacht werden könnte.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

Wir schulden dem Altkanzler ebenfalls, eine heute noch aktuellere Frage mit noch größerer Sprengkraft anzusprechen, über die derzeit die führenden Persönlichkeiten Europas diskutieren. Ich meine an dieser Stelle nicht die Todesstrafe, da die Situation zu dieser Frage ganz eindeutig ist. Der Präsident der Europäischen Kommission hat völlig Recht damit, dass kein Mitgliedsstaat eine Regelung einführen kann, die im Widerspruch zum Grunddokument der Europäischen Union steht, und in Folge dessen kann die Todesstrafe auch nicht eingeführt werden, wobei wir auch gar keine Absicht haben, diese einzuführen. Ich habe auch nicht an diese gedacht, sondern an die Flüchtlingsfrage. Diese Angelegenheit wiegt wesentlich schwerer, als es auf den ersten Blick erscheint; die Sache ist viel schwerwiegender und hat weitreichendere Konsequenzen, als man dies heute meinen würde. Wenn wir uns gedanklich nicht durch den europäischen Horizont einengen lassen, sondern die Welt holistisch betrachten, wie wir dies von unseren Lehrern gehört haben, dann werden wir feststellen, dass es hier gar nicht um die Frage von Einwanderung geht, sondern um eine Völkerwanderung der Moderne, von der kaum einen Punkt unseres Planet ausgenommen ist. Wir müssen daher nicht auf die Frage der Einwanderung eine Antwort finden, sondern auf die Frage, wie Europa nach der Völkerwanderung der Moderne und wie unser Kontinent nach der Völkerwanderung der Moderne aussehen wird? Die Antwort ist davon abhängig, wie wir auf diese Völkerwanderung der Moderne reagieren. Deshalb sprechen wir hier über eine gewichtige Frage mit weitreichenden Folgen. Europa kann sich dabei verändern. Es gibt Hauptstädte, in denen man, wenn man einige Jahre diese Stadt nicht mehr besucht hat, sich beim Eintreffen regelrecht so fühlt, als wäre man gar nicht in der gleichen Stadt, wie zuvor. Diese Änderung, an deren Schwelle Europa heute steht, bzw. die Europa meiner Auffassung nach bedroht, kann auch tiefere Schichten der Zivilisation berühren. Das Angesicht der Zivilisation Europas kann sich verändern. Und damit die Lage noch schwieriger wird, muss ich hinzufügen, dass, falls dies tatsächlich eintritt, wird dies nicht mehr umkehrbar sein. Deshalb müssen wir uns mit vollem Ernst mit der Frage der Völkerwanderung und Einwanderung auseinandersetzen, da die Prozesse, die dabei ablaufen könnten, im nach hinein unumkehrbar werden können, insbesondere bezüglich der humanen und rechtlichen Normen, sowie der christlichen Werte, in deren Geist wir unser Leben führen und den Kontinent gestaltet haben. Wenn wir dies einmal vermasselt haben, dann haben wir es für immer vermasselt. Dies bedeutet, dass das Angesicht der Zivilisation Europas nie wieder so werden wird, wie es derzeit aussieht. Deutschland konnte noch wiedervereinigt werden, man konnte noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkehren, und das deutsche Volk konnte zu seiner eigenen Geschichte zurückkehren, aber aus einem multikulturellen Europa gibt es kein Zurück mehr, weder zu einem christlichen Europa, noch in eine Welt der nationalen Kulturen.

 

In Ungarn bestehen zum Ausdruck „Multikulturell“ viele Missverständnisse. Man pflegt oft das Zusammenleben von Kulturen aus mehreren Nationalitäten – unbegründet – ebenfalls als Multikulturalismus zu bezeichnen. Ein aus vielen Nationalitäten bestehendes kulturelles Medium, das aber grundsätzlich innerhalb der christlichen Zivilisation eingeordnet werden kann, ist als in der gleichen Zivilisation verwurzelt zu betrachten. Der Multikulturalismus bedeutet aber nicht dies, sondern dass Gruppen, Kulturen und kulturellen Phänomene verschiedener zivilisatorischen Verwurzelungen neben einander existieren. Ich möchte erneut betonen, dass, falls Europa diesen Weg wählt, es kein Zurück mehr geben wird, weder zu einem christlichen Europa, noch in die Vielfalt der nationalen Kulturen. Die Kanzlerin Deutschlands hat im Jahr 2010 jedoch festgestellt, dass die Zeit des Multikulturalismus vorbei ist. Wir Ungarn befinden uns wieder in der gleichen Situation, wie zu den Zeiten des Altkanzlers Helmut Kohl: wir drücken die Daumen, wir hoffen und beten dafür, dass ein deutscher Kanzler erneut Recht behält.

 

Ich bedanke mich für ihre geschätzte Aufmerksamkeit!

(Prime Minister's Office)