Budapest, 24. April 2015
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche Ihnen einen guten Tag!
Ich begrüße auch herzlich die aus dem Ausland zu uns gekommenen Gäste und die Anwesenden, die sich an der Ausarbeitung der rechtswirksamen ungarischen Verfassung beteiligt haben, und selbstverständlich begrüße ich auch die verdienten Vertreter der ungarischen Rechtstaatlichkeit, die Leiter der staatlichen Institutionen und besonders herzlich möchte ich den Herrn Ministerpräsidenten begrüßen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich bin gerade aus Brüssel von einer Konferenz, einem Gipfeltreffen der Ministerpräsidenten zum Thema Flüchtlingspolitik mit der guten Nachricht zurückgekehrt, dass diejenigen, denen die verfassungsmäßige Identität wichtig ist, im Juni eine Menge zu tun haben werden, da von der Europäischen Union eine Strategie für Migration und Einwanderung diskutiert, und wie beabsichtigt, ausgearbeitet wird. Diese Frage könnte die verfassungsmäßige Identität der Mitgliedsstaaten in wesentlichen Punkten berühren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Über dieses Thema möchte ich jetzt jedoch nicht sprechen, sondern darüber, dass wir nach Ablauf von vier Jahren nach Verabschiedung des Ungarischen Grundgesetzes das Gerüst und die Bausteine betrachten möchten, die uns bei der Schaffung dieses Werkes zu Diensten waren. Bevor ich zum wesentlichen Teil meines Vortrags komme, möchte ich die über die Verfassung zwischen der Europäischen Union und Ungarn geführten Diskussionen in Erinnerung rufen. Ein Mitgliedstaat der Europäischen Union arbeitete eine neue Verfassung aus. Dabei handelte es sich um ein nicht erwartetes Ereignis, mit dem die Europäische Union unvorbereitet konfrontiert wurde. Dies traf die Union unerwartet, da andere ehemaligen kommunistischen Länder noch vor ihrem Eintritt in die Union ihre Verfassungen zum Abschluss der vorherigen historischen Epoche und zur Grundlage einer neuen Zeit ausgearbeitet haben. Ungarn war hierzu nicht in der Lage, weshalb wir gezwungen waren, eine Verfassung auszuarbeiten, als wir bereits Mitglied der Europäischen Union waren. Daraus resultierte – meiner Erfahrung nach – auch, dass die Verfassung Ungarns während dieser Diskussionen selbst zu einem Maßstab wurde. Dabei hat der Prüfer selbst eine Prüfung abgelegt; die gültige europäische Rechtsordnung diente dabei nicht lediglich als Messlatte, sondern wurde aufgrund des ungarischen Grundgesetzes selbst gemessen. Und all dies geschah vor unseren Augen, wir konnten die diesbezüglichen Leistungen der europäischen Institutionen selbst beobachten. Den doppelten Maßstab, die Ausübung von Druck und Übertreibungen ideologischer Natur. Ohne Ausnahme handelt es sich dabei um Aspekte der ungarischen Verfassungsgestaltung, die noch geschrieben werden müssen. Meiner Auffassung nach handelt es sich um natürliche Phänomene in einem demokratischen Verhältnissystem, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch gleichzeitig souveräne Staaten sind. Dies wird lediglich von denjenigen nicht verstanden, die das Grundgesetz Ungarns in der Weise nach Brüssel geschleppt haben, wie früher ihre Vorgänger mit der kommunistischer Verfassung in Moskau hausiert haben, aber wie wir bereits häufiger gesagt haben: Brüssel ist nicht Moskau.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Weg, der zum Grundgesetz geführt hat, war lehrreich. In den Zeiten der politischen Wende wurde die umfassende Verfassungsmodifizierung Ungarns zur Regulierung der Übergangszeit in der Weise herbeigeführt, als würde ein Schrankenwärter einen Zug auf ein anderes Gleis umleiten. Es hat sich nämlich damals herausgestellt, dass der Zug über das Abstellgleis des Staatssozialismus hinaus fahren wird. Während dieser Zeit hat man in den Nachbarländern Ungarns nicht lediglich die morsch gewordenen Bahnschwellen entsorgt, sondern im gleichen Moment auch die Gleise, den Bahnhof und die Schrankenwärter ausgetauscht. Von den europäischen postkommunistischen Ländern war Ungarn das einzige Land, das keine neue Verfassung erhalten hat, wie dies vom Herrn Justizminister bereits häufiger geschrieben wurde: über zwei Jahrzehnte hinaus blieb der neue Wein in den alten Schläuchen. Daher ist es auch kein Wunder, dass der Text, der eine kosmetische Aufbesserung erhalten hatte, damals – wir schrieben damals das Jahr 1989 – von jedem als provisorische Verfassung betrachtet wurde. Dies ging sogar so weit, dass selbst in der Präambel aufgeführt wurde, dass diese Verfassung lediglich bis zur Verabschiedung einer neuen ungarischen Verfassung ihre Gültigkeit behalten sollte. Dennoch wurde aus der provisorischen Lösung ein dauerhafter Zustand. Dabei handelt es sich um keine uns unbekannte Sache, sie erinnert uns an die Geschichte der vorübergehend in unserer Heimat stationierten sowjetischen Truppen. All dies gebührt aber auf keinen Fall zur Ehre der ungarischen Politik. Die verschiedenen ungarischen Parlamente waren zwanzig Jahre lang nicht in der Lage, ihrer Verfassungsverpflichtung nachzukommen, nämlich nach vorübergehenden Regelungen die in dieser Verfassung zugesagte neue Verfassung auszuarbeiten. Die auf eine Marktwirtschaft kalibrierte und modifizierte alte Verfassung, ist vergleichbar mit einem Motor von Mercedes Benz, den man in einen Trabant eingebaut hat, sie funktionierte lediglich holprig und fiel ständig aus. Interessanterweise wurden die grundlegenden Mängel, darunter z.B. ihre Werteneutralität, ihr provisorischer Charakter, ihre technokratische Auslegung mit der Zeit langsam zu Tugenden stilisiert – zumindest in den Augen derer, die diese nachträglich gewürdigt haben.
Einmal, in Folge der Wahlen im Jahr 1994 wurde den linken Parteien vom ungarischen Volk der Auftrag zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung erteilt, eine neue Verfassung hat das Land dennoch nicht erhalten. Ich spreche jetzt nicht nach meinem politischen Geschmack, da man an dieser Stelle eigentlich hätte formulieren sollen, Gott sei Dank dafür, dass dies so geschehen ist, aber ich betrachte die Frage jetzt lediglich vom Standpunkt der verfassungsmäßigen Verantwortung, und möchte die Tatsache festhalten, dass eine linke Regierung und linke Regierungsmehrheit in Ungarn bereits einmal die Zweidrittel-Mehrheit besessen hat, und dennoch nicht ihrer verfassungsmäßigen Verantwortung nachgekommen ist, dem Land eine neue Verfassung zu geben. Als ein weiteres bemerkenswertes ungarisches Phänomen gilt, dass dieser Umstand – nämlich, dass diese Regierungsmehrheit ihrer verfassungsmäßigen Verantwortung nicht nachgekommen ist – zu einem späteren Zeitpunkt als Tugend und Verdienst interpretiert wurde. Dieser Fakt könnte insbesondere für ausländische Beobachter als ein an sich interessantes und wichtiges zusätzliches Detail eingestuft werden, d.h. eine wichtige Zusatzinformation, um die ungarische Denkweise über die politische Führung zu verstehen, nämlich wie aus einem Versäumnis und Mangel an Führungsqualität eine Tugend fabriziert werden kann.
Im Jahr 2010 ist die bürgerliche Seite der Verantwortung nicht ausgewichen, oder wie dies in der Sprache der Politik ausgedrückt wird: die damalige Regierungsmehrheit hat den Willen der Wähler verstanden. Bereits während den Wahlen wurde von uns keine Katze im Sack verkauft, vor der zweiten Wahlrunde wurde eindeutig und gänzlich klar gemacht, dass, falls wir das Zweidrittel-Mandat von den Wählern erhalten, wir eine neue Verfassung für Ungarn ausarbeiten werden. Die ungarischen Wähler haben unserer Meinung nach verstanden, dass wir die langgezogene und konfuse Übergangsphase abschließen und in der Geschichte unseres Landes ein neues Kapitel beginnen müssen. Als Alternative hätte sich angeboten, die bereits totmodifizierte vorhandene Verfassung weiter zu modifizieren, wobei wir diesen Weg nicht einschlagen wollten. Nach 1990 war vom ungarischen Parlament der flickenteppichartige Text des Gesetzes Nr. XX aus dem Jahr 1949 bereits mehr als häufig genug geflickt worden. Wir haben daraus bereits gelernt, dass alles umsonst war, man könnte gar nicht genug Flicken darauf anbringen, damit die ursprüngliche rote Farbe des Textes nicht dennoch zum Vorschein gekommen wäre.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Lassen wir uns nach dieser kurzen Einleitung ansehen, was der Begriff Verfassung aus ungarischer staatswissenschaftlicher Auffassung im allgemeinen Sinne bedeutet.
Sehr geehrte Gäste aus dem Ausland!
Wenn wir Ungarn über dieses Thema sprechen, gehen wir meistens zum Lebenswerk von Ferenc Deák, Justizminister der ersten verantwortlichen ungarischen Regierung zurück. Ich möchte an dieser Stelle genau dies tun, ich möchte Ferenc Deák zitieren. Deák hat zu diesem Thema drei Aussagen gemacht. Zum Einen ist nach Ansicht Deáks unsere Verfassung eine historische Verfassung. Ich zitiere: „Sie wurde nicht auf einen Schlag erstellt, sondern hat sich aus dem Leben der Nation entwickelt”, zum Anderen schrieb er: „Gerade deshalb ändert sie sich entsprechend der Entwicklung des Lebens der Nation”, und zum Dritten formuliert er wie folgt: „…wonach sie sich über Jahrhunderte gefestigt hat, sollten wir...” – darunter sind die damals lebenden Ungarn – „…das Werk von Jahrhunderten von unseren Ahnen entgegen nehmen, und [es] ist gleicherweise unsere Verpflichtung, diese, soweit möglich, unseren Nachkommen als Konstante gesichert weiterzugeben.” Ende des Zitats – die Dolmetscher bitte ich an dieser Stelle um Entschuldigung –, auf diesen drei Pfeilern ist das heutige ungarische Verfassungssystem aufgebaut.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Aus all diesem können wir den Schluss ziehen, dass die Verfassung nach Ansicht von Ferenc Deák und der traditionellen ungarischen Auffassung wesentlich mehr bedeutet, als ein werteneutrales juristisches Katalogwerk. Gemäß traditioneller Auffassung hat diese die historische Verfassung dargestellt, die all die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln enthalten hat, die seit der Staatsgründung für eine funktionierende ungarische Gesellschaft gesorgt haben. Man hat darunter einen nationalen öffentlichen Konsens verstanden, der zwischen Recht und Moral noch eine unmittelbare Beziehung hergestellt hat, während Urkunden ihr Fundament gebildet haben, wie zum Beispiel die „Anmahnungen von König Stephan“, die Goldene Bulle aus dem Jahr 1222, das Tripartitum oder das Pragmatica Sanctio. Wir haben diese Auffassung zu unserer eigenen gemacht. Unserer Meinung nach hat die historische Verfassung einen festen Bestand und wird auch einen ewigen Bestand haben, solange der ungarische Staat Bestand haben wird. Aus diesem Grunde haben wir dieses Dokument, wegen dem wir uns hier versammelt haben, als Grundgesetz bezeichnet, das sich in die Struktur und Errungenschaften der historischen Verfassung integrieren kann. Bereits Ferenc Deák hat diese Tradition so betrachtet, dass sie sich organisch mit dem Leben der Nation weiterentwickelte, und von der Nation immer an die Schicksalsfragen ihrer jeweils eigenen Epoche angepasst wurde. In der Weise daher, wie die Verfassung sich mit der Historie der Nation verwoben hat, soll sich auch später die Geschichte der Nation in den Text des Grundgesetzes eingewoben haben. Zusammenfassend können wir drei wichtige Punkte formulieren, wobei uns drei wichtige Erkenntnisse geleitet haben, die als von Deák abgeleitete Fundamente genutzt wurden.
Erstens wird durch die Verfassung, ähnlich zur Heiligen Krone der ungarischen Könige – an sich und auch in ihrem Text – die Kontinuität der Geschichte, des politischen und kulturellen Lebens der ungarischen Nation symbolisiert. Wir haben uns daher nicht bemüht, einen Text zu gestalten, der gleichzeitig auch als Verfassung gleichgültig welchen europäischen demokratischen Landes durchgehen könnte, wenn man darin die Worte ungarisch und Ungarn austauschen würde.
Zweitens: da die Verfassung sich aus dem Leben der Nation entwickelt hat, sollte sie auch die Änderungen im Schicksal des Landes nachvollziehen. Wir haben uns daher nicht bemüht, einen Text auszuarbeiten, auf dessen Grundlage man auf die Idee kommen könnte, dass wir Ungarn erst am Tag davor durch das Tor Europas getreten sind, und davor nichts erwähnenswertes mit uns geschehen wäre.
Drittens: die Tradition von Deák spricht über die Verfassung im Sinne eines identitätsstiftenden Dokuments, das als lebendige Tradition von einer Generation der anderen übergeben wird, weshalb wir die Verfassung als ID-Karte der Nation ansehen, weshalb wir uns grundsätzlich nicht bemüht haben, einen Text auszuarbeiten, der all das, was unser Besitz ist, außer Acht lassen würde: nämlich unser Land, unsere Sprache, unsere Naturschätze und geistigen Werte, die wir gleichzeitig von unseren Ahnen geerbt, und als Pfand von unseren Nachfahren erhalten haben. Wenn wir an diesen drei Eckpunkten die kommunistische Verfassung, die zu den Zeiten der Wende umgeschrieben wurde, messen, dann lässt sich feststellen, dass die Ausarbeitung des ungarischen Grundgesetzes als eine historische Aufgabe und eine Notwendigkeit anzusehen ist. Eben deshalb erfüllt das Grundgesetz eine seiner wichtigsten Aufgaben gerade dadurch, dass im Vergleich zu dem früheren neutralen Text als Auslegungshintergrund die Errungenschaften der historischen Verfassung, wie zum Beispiel die Lehre über die Heilige Krone, die als zeitgenössischer Ausdruck der Machtaufteilung und der Rechtstaatlichkeit sowie der Volkssouveränität betrachtet werden kann, definiert werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Gäste!
Einer der grundlegenden Fehler der provisorischen Verfassung aus der Zeit vor Inkrafttreten des Grundgesetzes bestand darin, dass sie keine Deklaration der historischen Kontinuität und auch keine sachliche Reflexion hinsichtlich der Änderungen in der Historie der Nation enthalten hat. Es kann nicht als bedeutungslos abgetan werden, dass im 20. Jahrhundert in Ungarn nach schwerwiegenden Kriegsniederlagen und demütigenden Friedensverträgen, militärischen Besatzungen und Diktaturen, bzw. sich voneinander grundlegend unterscheidenden politischen Systemen, die einander verleugnet haben sich immer wieder abgewechselt haben, wodurch die historische Kontinuität des Landes ständig unterbrochen wurde. Diese logischen und historischen Aspekte können bereits deshalb nicht einfach als bedeutungslos abgetan werden, weil die Ereignisse des 20. Jahrhunderts und das über mehrere Jahrzehnte anhaltende Schweigen darüber in der Gegenwart zu solchen Vergangenheitsauslegungen geführt haben, die widersprüchlich sind, und die vor 2010 die Herbeiführung eines zur Ausarbeitung einer Verfassung erforderlichen Konsenses unmöglich gemacht haben. Das heißt auch, dass die Entwicklung der nationalen Geschichte im 20. Jahrhundert die Politik gefordert hat, eine Verfassung auszuarbeiten, die in Hinsicht auf die vergangenen 1100 Jahre, aber insbesondere auf die letzten hundert Jahre erneut die Fragen beantwortet, wer wir sind und wie wir unseren Platz und eigene Rolle in Europa betrachten.
Aus diesem Grunde ist in der Verfassung verankert, da dies verankert werden musste, dass das Christentum seit tausend Jahren eine Kraft für Ungarn darstellt, die stets für den Erhalt der Nation gesorgt hat. Außerdem wurde in der Verfassung verankert, da dies ebenfalls verankert werden musste, dass wir durch die deutsche Besatzung unseres Landes am 19. März 1944 die Selbstbestimmung unseres Staates verloren haben, die erst wieder am 2. Mai 1990 wiederhergestellt werden konnte. Außerdem wurde in der Verfassung verankert, da dies ebenfalls verankert werden musste, dass – und dies schulden wir unseren Brüdern und Schwestern, die während der Nazizeit und dem kommunistischen System ermordet oder verfolgt wurden – wir die Sünden, die in Ungarn vom nationalen oder internationalen Sozialismus, im Grunde also vom Kommunismus begangen wurden, verurteilen und für nicht verjährbar halten. In der Verfassung ist außerdem verankert, da dies ausgesprochen werden musste, dass Ungarn – hinsichtlich der Zusammengehörigkeit der einheitlichen Nation - eine Verantwortung für das Schicksaal der außerhalb seiner Grenzen lebenden Ungarn trägt, und unterstützt sie in ihrem Vorankommen in ihrer Heimat. Außerdem wurde in der Verfassung verankert, da dies aus historischen Gründen ausgesprochen werden musste, dass man nach der Krise im Jahr 2008, welche die Menschen in Schulden und Armut stürzte, Paragraphen darüber ausarbeiten sollte, dass vom Parlament kein Gesetz über den Staatshaushalt verabschiedet werden darf, das die Verschuldung des Landes zu Folge hat. Aus diesem Grunde verfügt der Haushaltskontrollrat über das Recht zur Kontrolle über das jeweilige Budget, und als Lehre, die aus den früheren verzweifelten Brandlöschversuchen gezogen wurde, wurde in der neuen Verfassung eine effektive Brandschutzsystem eingeführt.
Liebe Gäste, sehr geehrte Damen und Herren, erlauben Sie mir noch eine zusätzliche Bemerkung. Vor vier Jahren haben wir eine der modernsten Verfassungen Europas verabschiedet. Gleich aus drei Gründen können wir hier über eine der modernsten Verfassungen Europas sprechen. Diese Verfassung, unsere moderne Verfassung legt den verfassungsrechtlichen Schutz der Arbeitsplätze von Frauen, von Älteren, von Menschen mit Behinderungen, von jungen Menschen und von Eltern fest. In ihr wird verankert, dass das Leben eines Kindes bereits im Mutterleib geschützt werden muss, und legt außerdem fest, dass das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit auch eine Agrarwirtschaft einschließt, die frei von genetisch modifizierten Organismen ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Im Vergleich zu dem früheren werteneutralen Text stellt die wichtigste Änderung jedoch dar, dass das ungarische Grundgesetz ähnlich zu den Verfassungen anderer Länder auch unsere verfassungsmäßige Identität darstellt. Diese in der Verfassung verankerte kulturelle Identität verbindet uns an gewissen Punkten mit anderen Nationen, während sie uns wiederum an anderen Punkten von ihnen trennt, und weist uns somit unseren Platz in der Welt und in Europa zu. Das Grundgesetz Ungarns ähnelt den Verfassungen, die den Staatsbürgern des jeweiligen Landes eine Möglichkeit bietet, in den Text hineinzusteigen, d.h. wie in ein Gebäude einzutreten, da aus dem zentralen Text des Grundgesetzes, wie aus einer Art Hauptschiff eines Gebäudes die Nebenschiffe der schlüsselwichtigen Gesetze in natürlicher Weise zugänglich sind, wobei auch das Nationale Glaubensbekenntnis nicht lediglich eine Zierde oder Anhang am Anfang des Textes darstellt, sondern den organischen Teil des Textes bildet, und somit mit dem Portal des Gebäudes der Verfassung gleichzusetzen ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichtsauffassung und das Engagement des Nationalen Glaubensbekenntnisses für den Frieden einen Wert verkörpert, mit dem alle Ungarn, unabhängig ihrer Parteizugehörigkeit übereinstimmen können. Wenn ich sage, dass alle Ungarn übereinstimmen, bedeutet das nicht, dass tatsächlich alle damit einverstanden sind, aber die Möglichkeit wird vom Text angeboten, und durch die Qualität und Tiefe des Textes ermöglicht. Was bedeutet daher der Satz: „wir, Mitglieder der ungarischen Nation”? Es fand seinerzeit eine umfassende Diskussion über das Einfügen dieser Formulierung statt, aber letztlich haben wir uns für folgende Formulierung entschieden: „wir, Mitglieder der ungarischen Nation”. Dieser Satz soll dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass die Nation nicht lediglich die Gesamtheit der gerade lebenden und gerade wahlberechtigten Menschen darstellt, sondern die Gesamtheit von Generationen, die aus der Verbindung von sich ständig ändernden Personen bestehen. Eine Gemeinschaft, die nicht lediglich unter denen besteht, die am Leben sind, sondern auch unter denen, die bereits verstorben sind, oder die erst in Zukunft geboren werden. Das Interesse einer so aufgefassten Gemeinschaft wiegt aus diesem Grunde immer schwerer, als die Gesamtheit der Interessen von Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Gemeinschaft bilden. Dies ist aber gleichzeitig auch mit weitreichenden Konsequenzen und weitreichender Verantwortung verbunden. Ich weiß, dass diese verfassungsrechtliche Schule in der Welt von vielen bestritten wird, aber es gibt auch sehr viele, von denen sie vertreten wird. Wir akzeptieren die verfassungsrechtliche Annäherung nach Lipmann – nennen wir sie jetzt so –, da seine Ansichten für uns am klarsten darstellen, was wir denken, wenn wir in der Verfassung so formulieren: „wir, Mitglieder der ungarischen Nation.” Auf jeden Fall hat sich die Verfassung diese staatsphilosophische Auffassung zu Eigen gemacht, was auch heißt, dass das Nationale Glaubensbekenntnis im Namen einer kulturellen und Traditionsgemeinschaft spricht, die wiederum von Generation zur Generation weitergegeben wird, und die in verschiedene Teile der Welt verschlagene und ausgewanderte Ungarn als eine einheitliche Nation definiert, wie wir in der ausgelaugten Sprache der Politik dies formulieren pflegen, die ungarische Nation ist eine Weltnation.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zum Schluss möchte ich über die Fragen der Identität sprechen. Als Motto der Europäischen Union gilt: in Vielfalt geeint. Dies bedeutet auch, dass wir Europa sind, dass Europa Ungarn ist, dass Europa Deutschland ist, dass Europa Frankreich ist und Europa ist auch Italien, aber die Liste könnte bis 28 fortgesetzt werden. Das heißt auch, dass es keine apokryphen Werte unter den als europäisch betrachteten oder zu europäisch gewordenen nationalen Eigenarten gibt. Ganz Europa akzeptiert, drücken wir es einmal so aus, die deutsche Klausel mit ewiger Gültigkeit, die die unveränderbaren Bestimmungen der deutschen Verfassung darstellen. Die deutsche verfassungsmäßige Selbstidentität, die den Sozialstaat bestimmt, wird ebenfalls allgemein akzeptiert. Auch die französische Laizität wird als Bestandteil der französischen verfassungsmäßigen Selbstidentität akzeptiert. Es wird ferner akzeptiert, dass die griechische Verfassung in ihrer Präambel durch die Definition der Heiligen Dreifaltigkeit sich zu theologischen Versuchen hinreißen lässt, und akzeptiert auch, dass es von Geburt her Vorrechte, wie die Königreiche, die an die hoheitliche Befugnisse gebunden sind, existieren. Es wird ferner akzeptiert, dass in manchen Ländern lebenslange Ernennungen für Senatsmitglieder möglich sind. Und all dies gilt als Europa, und nicht als Apokryphen.
Meine sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn man diesen Gedanken von diesem Blickwinkel aus betrachtet, bleibt nur noch die Frage, welche die definierbaren Elemente der ungarischen verfassungsmäßigen Identität denn sind? Es ist eine schöne Aufgabe, diese Frage zu beantworten. Aber, falls dies von einem Menschen getan werden könnte, warum wären wir dann so zahlreich hier heute erschienen? Damit will ich lediglich zum Ausdruck bringen, dass ich zwar einige Elemente hierzu nennen werde, aber der Meinung bin, dass diese Diskussion nicht abgeschlossen wurde, sondern möglicherweise noch nicht einmal begonnen hat. Es wäre möglicherweise an der Zeit, auch die ungarische Verfassung durch Rechtswissenschaftler, Rechtsphilosophen und sozialwissenschaftlichen Denkern von diesem Gesichtspunkt aus analysieren zu lassen, um festzustellen, welches die Elemente der ungarischen verfassungsmäßige Identität sind, die von der Verfassung entnommen werden können. Ich, da ich an der Ausarbeitung und Verabschiedung des Textes beteiligt war, werde Ihnen – als würde ich mich an der noch nicht einmal begonnenen Diskussion beteiligen – vier von diesen Elementen nennen.
Das erste Element ist die Frage des Schutzes der Sprache und der Kultur. Dieses Thema tritt in der ungarischen Verfassung mit einer so großen Kraft hervor, wie nur in wenigen anderen oder möglicherweise in keiner anderen europäischen Verfassungen, weshalb die diesbezüglichen speziellen Regelungen als Teil der ungarischen verfassungsmäßigen Identität betrachtet werden. Zum Zweiten: „die individuelle Freiheit gewinnt erst in Zusammenarbeit mit anderen einen Sinn.” – wird in der Verfassung festgelegt, das heißt, dass die ungarische Verfassung auf dem Prinzip der Gemeinschaft begründet ist. „Freiheit und Verantwortung” – ist einer der Untertitel der Verfassung. Dabei handelt es sich um eine Verfassung nach dem Prinzip der Gemeinschaft, in der die individuelle Freiheit lediglich in Zusammenarbeit mit anderen für sinnvoll gehalten wird. Meiner Meinung nach gilt dies ebenfalls als ein Element der verfassungsmäßigen Identität. Zum Dritten wird in dieser Verfassung die Gesellschaft auf Basis der Arbeit definiert, oder selbst wenn dies so gar nicht definiert wird, wird die auf der Arbeit basierte Gesellschaft deklariert, wobei ich die Verfassung nicht wortwörtlich zitiere, da es irgendwie so formuliert wird, dass wir uns dazu bekennen, dass die Grundlage der Gesamtheit der Gemeinschaft und die Würde aller Menschen die Arbeit und die geistige Leistung darstellt. Und schließlich gilt die historische Dimension als viertes identitätsstiftendes Element unserer Verfassung, d.h., dass sie in Richtung historische Verfassung das Tor öffnet, und auch die eigenen rechtlichen Dokumente der ungarischen Geschichte in den Text integriert. Viele Diskussionen werden über die Fragen der verfassungsmäßigen Identität geführt und verschiedene Schulen und Annäherungsansätze existieren diesbezüglich. Ich halte dabei die französische Schule für bemerkenswert, da diese die schwierige Frage, nämlich, was die verfassungsmäßige Identität grundsätzlich ist, äußerst einfach definiert, worin möglicherweise auch gleich ihre Attraktivität liegt, nämlich in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit. Diese sagt aus, dass „alles, was auf das Wesentliche abzielt, und ein Land von anderen Ländern unterscheidet, als Element der verfassungsmäßigen Selbstidentität angesehen werden kann.”
Wir können mit Stolz behaupten, meine sehr geehrte Damen und Herren, dass wir etwas zu verteidigen haben, und wir noch in den vor uns liegenden europäischen Diskursen etwas zu verteidigen haben werden. Ich bedanke mich für Ihr Interesse und fasse noch einmal meinen Standpunkt zusammen, demnach das Grundgesetz Ungarns ein einheitliches Wertesystem darstellt, und aufgrund einer durchdachten Konzeption entstanden ist. Bei ihrer Konstruktion wurden von uns auch Elemente verwendet, die von früheren Baumeistern verworfen wurden, zum Beispiel die Errungenschaften unserer historischen Verfassung, wir haben in den Text aber auch Texte von Bestimmungen integriert, die aus der früheren Rechtsprechungspraxis der ungarischen Verfassungsgericht stammten. Auf dieser Grundlage haben wir aber vor allem ein klares Wertesystem formuliert, das von unserem Land, als europäisches demokratisches Land, als sein Eigenes betrachtet wird, und für uns eine Welt der Freiheit und Verantwortung definiert. Ich möchte meinen kurzen Vortrag mit den Worten schließen, womit auch die Verfassung abgeschlossen wird: „Sei Frieden, Freiheit und Einigkeit!”
Ich bedanke mich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!
(Amt des Ministerpräsidenten)