19. Mai 2015 in Straßburg
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich bin heute zu Ihnen gekommen, weil Sie heute hier in Straßburg über meine Heimat, Ungarn beraten. Es ist für mich immer eine Ehre, wenn Abgeordnete des Europäischen Parlaments über die Situation in Ungarn einen Diskussionstag durchführen. Für mich gilt es als bindende Verpflichtung, mich im Namen meiner Heimat, Ungarn und im Namen der Ungarn zu Wort zu melden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Ungarn per Referendum sich für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entschieden haben, und wir seither sehr stolz auf unsere Entscheidung sind.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Wir könnten auch denken, – was eigentlich auch logisch wäre –, dass wir uns heute deshalb versammelt haben, weil Europa auf die Erfolge der Ungarn neugierig geworden ist. Neugierig darauf geworden, was und wie Ungarn das erreicht hat, was es in den letzten fünf Jahren erreicht hatte. Wir hätten in der Tat genug Gesprächsstoff. Im Jahr 2010 hat Ungarn, was das Wachstumstempo des Gesamtnationalprodukts betrifft, von den 28 Mitgliedsstaaten noch auf Platz 21 gelegen, während sich Ungarn im letzten Jahr bereits auf Platz 2 befunden hat. Während anderswo die Staatsschulden wachsen, haben wir in Ungarn unsere Staatsverschuldung von 85 % auf weniger als 77 % reduziert, und während im Jahr 2010 bei uns die Arbeitslosigkeit noch wesentlich über 11 % lag, liegt dieser Wert derzeit unter 7 %, und wie ich hoffe, werden wir innerhalb von drei Jahren die Vollbeschäftigung erreichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Sie jedoch haben diesen Diskussionstag – soviel ich weiß, - heute einberufen, um unter der Klebeetikette „Situation in Ungarn“ politische Fragen, insbesondere die Frage der Einwanderung zu erörtern. Was die politischen Fragen anbelangt, möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Ungarn, als der mit dem Rechtstaatlichkeits-Röntgenstrahl der Europäischen Union am häufigsten durchleuchteter Mitgliedsstaat betrachtet werden kann. Dennoch halte ich es für begrüßenswert, dass Sie solche wichtigen Fragen auf Ihre Agenda setzen, die in der Tat die Europäer beschäftigen: gesetzliche Ordnung, öffentliche Sicherheit und Einwanderung. Bei diesen Themen handelt es sich um die Schicksalsfragen unserer gemeinsamen Zukunft. Auf die Beantwortung dieser Fragen kann es ankommen, was für eine Union wir unseren Kindern hinterlassen werden, wobei diese Probleme keine ungarischen Probleme, sondern gesamteuropäische Probleme sind. Und dennoch werden diese heute im Zusammenhang mit meiner Heimat diskutiert, und hierfür gibt es nur einen einzigen Grund, nämlich dass die Ungarn im Allgemeinen schwierige Sachverhalte gerne im Klartext besprechen. Wir sind eben so, wir mögen es nicht, herum zu schwatzen, oder um eine Sache herumzureden, wir besprechen eine Sache am liebsten gerade heraus, oder gar nicht. Deshalb sprechen wir gerade ganz offen über die Themen Todesstrafe und Einwanderung, wobei es noch dazu kommt, dass wir festgestellt haben, dass die bisher geführten Diskurse, die zwar von vielen als PC – d.h. politically correct – bezeichnet werden, uns Europäer einer Lösung nicht näher gebracht hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Aus diesem Grund sprechen wir auch hierüber gerade heraus und ganz offen, wobei wir unsere Meinung aussprechen, nämlich, dass wir Ungarn es gerne hätten, wenn Europa das Eigentum der Europäer bleiben würde, und dass wir auch Ungarn als ein ungarisches Land bewahren möchten. Diese beiden Ziele gelten als legitime Ziele, und ich bin davon überzeugt, dass beide Ziele mit den Grundwerten und den Absichten der Gründer der Union vollkommen übereinstimmen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich mache den Vorschlag, dass wir strickt zwischen der Freizügigkeit und der freien Bewegung der Arbeitskräfte innerhalb Europas einerseits, und andererseits der Migration, die von außerhalb Europas stammt, unterscheiden sollten. Und selbst innerhalb des letzteren sollten wir die Angelegenheit der Flüchtlinge von der Angelegenheit der Einwanderer trennen, die ausschließlich aus dem Grund nach Europa kommen, weil sie auf einem höheren Lebensstandard und im größeren Wohlstand leben wollen, als ihre eigene Heimat ihnen bietet. Es ist bedauerlich, lieber Herr Kommissar Timmermans, aber in Ungarn sieht die Situation so aus, dass wir den Einwanderern keine Arbeit geben können. Es ist besser, wenn wir darüber aufrichtig und gerade heraus sprechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir möchten in erster Linie mit der Frage der Wirtschaftseinwanderung auf unserer Art und Weise umgehen. Ungarn und die Europäische Union haben guten Grund dazu, sich mit der Frage der Wirtschaftseinwanderung auseinanderzusetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich bin davon überzeugt, dass das, was uns derzeit als Vorschlag und als Vorlage der Europäischen Kommission vorliegt, in unserer direkt formulierenden ungarischen Sprache ausgedrückt, als absurd, nahezu verrückt bezeichnet werden muss. Meiner Überzeugung nach gilt es als eine gefährliche Einstellung, wenn wir sagen, es gäbe hier überhaupt kein Problem, lasst uns unsere Tore breit auftun, damit jeder, wer möchte, zu uns kommen kann. Die Fakten sprechen eine klare Sprache, auf Europa lastet heute ein riesiger Migrationsdruck. Im Vergleich zum Jahr 2010 nahm das Maß der illegalen Einwanderung in Europa auf das dreifache zu, und in Ungarn wuchs die Zahl der illegalen Grenzüberschreitungen innerhalb der kürzesten Zeit auf sage und schreibe das Zwanzigfache an. Wir sprechen es ganz offen aus, dass die derzeitigen Abkommen zu überprüfen sind, und das Recht zum Schutz der eigenen Grenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erneut in die Zuständigkeit der nationalen Staaten zurückgegeben werden sollte. Wir sind der Meinung, dass dies ein vernünftiger, humaner und lebensnaher Standpunkt ist. Ich sage dies mit dem erforderlichen Respekt, bin aber der Überzeugung, dass es bei dem Vorschlag, gemäß dem wir die Flüchtlinge nach Europa hineinlassen, und sie dann nach einer irgendwie künstlich bestimmten Quote aufteilen sollten, um einen Wahnsinn handelt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich bin davon überzeugt, dass eine Quote die Menschenschmuggler erst richtig motivieren wird, und noch mehr Menschen nach Europa locken und sie ermuntern wird, eine gefährliche Seeüberfahrt zu wagen, und so zu versuchen, auf das Gebiet der Union zu gelangen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass es die günstigere Lösung wäre, die Regulierung der Einwanderung in die Zuständigkeit der nationalen Staaten zu geben. Mein Standpunkt dabei ist – wobei ich mich sehr freue, dass hierüber bereits eine Diskussion in Gang gekommen ist –, dass anstelle einer Quote den einzelnen Mitgliedsstaaten erlaubt werden sollte, selbst über diese Frage zu entscheiden. Wir Ungarn möchten selbst darüber entscheiden, ob wir in Ungarn Einwanderer sehen möchten, oder nicht. Wir sind eine christliche nationale Regierung, und in unseren Herzen gibt es ein Gefühl der Barmherzigkeit, und haben und werden deshalb Flüchtlinge, wirkliche Flüchtlinge aufnehmen, wie wir dies schon immer getan haben, und auch in Zukunft tun werden. Bei Einwanderern handelt es sich aber nicht um Flüchtlinge, diese möchten ein besseres Leben, deshalb kommen sie hierher. Wir können dies zwar verstehen, können es aber nicht akzeptieren. Der illegale Grenzübertritt ist eine Straftat, gegen die wir entschiedene Maßnahmen ergreifen müssen. Ungarn muss seine Rechtsordnung und auch seine Grenzen schützen, und wir möchten nicht, dass Ungarn das Zielland von illegalen Einwanderern wird. Es gibt Länder, die beschlossen haben, mit diesem Problem zu leben, und haben deshalb den Beschluss gefasst, eine Einwanderungspolitik zu gestalten. Wir respektieren diese, ihre Entscheidung. Aus diesem Grunde haben wir eine Konsultation über das Thema der Einwanderung veranlasst. Wir sind der Meinung, dass es so korrekt und fair ist, wenn wir zu diesem Thema auch die Meinung unserer Bürger einholen. Ich möchte einem der Diskussionsredner mitteilen, dass in Ungarn im Augenblick in Sachen Todesstrafe keinerlei Konsultation im Gange ist, hier kann es sich lediglich um ein fatales Missverständnis handeln.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich möchte Sie daran erinnern, dass Ungarn mit Niemandem irgendeine Vereinbarung oder Abkommen darüber unterzeichnet hat, über welches Thema in Ungarn nicht gesprochen werden darf, bzw. über welches Thema gesprochen werden darf. Wir haben auch darüber keine Vereinbarung unterzeichnet, über welches Thema wir eine Konsultation durchführen dürfen, und über welches Thema nicht. Welche Themen wir ansprechen dürfen, und welche nicht. Unser Beitrittsvertrag zur Union enthält keinerlei Ausnahmen dahingehend, dass in den Mitgliedsländern der Europäischen Union über gewisse Dinge nicht gesprochen werden darf, bzw. gewisse Themen nicht angesprochen werden dürfen. Gerade deshalb betrachten wir es als eine Verletzung des Grundvertrages der Union, wenn jemand versucht, sich darin einzumischen, worüber wir Ungarn eine Meinung äußern dürfen, und worüber nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wenn wir die Anzahl der Asylbewerber im Verhältnis zum pro Einwohner gerechneten Nationalen Gesamtprodukt betrachten, wird es sich zeigen, dass nach Deutschland Ungarn der Mitgliedsstaat ist, den es am meisten trifft. Wenn wir die Anzahl der Asylbewerber pro tausend Einwohner betrachten, dann steht Ungarn nach Schweden ebenfalls auf dem zweiten Platz. Ich möchte Sie an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass in der Migrationsagenda der Europäischen Kommission keine ausreichende Aufmerksamkeit der West-Balkan-Region zu Teil wird. Im ersten Quartal 2015 stammten von den 43 Tausend in Ungarn eingereichten Asylanträgen 24 Tausend Asylanträge von Bürgern aus dem Kosovo. Es ist deshalb unerlässlich, mit den Ländern entlang der Balkan-Migrations-Route zusammenzuarbeiten, bzw. die Kapazitäten im Bereich Migration, Asylwesen und Grenzverwaltung dieser Länder zu entwickeln. Außerdem bitte ich Sie, die Krise in der Ukraine nicht außer Acht zu lassen, da uns diese Prüfung noch bevor steht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Was die Frage der Todesstrafe angeht, denke ich, dass Europa seinen Kopf nicht in den Sand stecken sollte. Ich möchte auf keinen Fall, dass wir zurück ins Mittelalter kehren sollen, und es erneut Fragen geben würden, über die es verboten ist, zu sprechen. In dieser Diskussion geht es in Wirklichkeit gar nicht um die Todesstrafe, sondern um die Frage des freien Denkens, der freien Meinungsbildung und der freien Meinungsäußerung. Ich jedenfalls halte an meiner Meinung fest, dass man über das Thema der Todesstrafe sprechen sollte. Wir stehen dabei auf verfassungsrechtlichen Grundlagen und die diesbezüglichen Regelungen können bei uns in Ungarn auch lediglich im Einklang mit der Europäischen Union geändert werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Prinzipien, die Abkommen und Regelungen der Europäischen Union sind nicht in Steintafeln gemeißelt, diese sind keine Schöpfung von Göttern oder von diesen inspiriert, sondern sind von Menschen geschaffen, weshalb diese von Menschen auch jederzeit geändert werden können. Das ist Freiheit und das ist Demokratie.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Bei diesen Themen gilt die Meinung von jedermann, als die Meinung von einem einzelnen Menschen, und nicht mehr, egal wer diese Person auch immer sein mag. Dabei kann diese Person ein Philosoph, ein europäischer Kommissar, ein Ministerpräsident oder ein Parteivorsitzender sein, das spielt hierbei keine Rolle, auch bei ihrer Meinung handelt es sich um die Meinung eines europäischen Bürgers. Es gilt daher weder als Heiligtum, noch als Dogma, noch als höhere Wahrheit, weshalb Ungarn sich weiterhin für die Freiheit, für den Gedanken und den europäischen Wert der freien Meinungsäußerung einsetzen wird.
Ich bedanke mich für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!
(Prime Minister's Office)